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Flucht Heiner Koch ist der neue Erzbischof von Berlin. Ein Gespräch über Christen mit Fremdenangst und die grenzenlose Liebe Gottes„Auch die Christen hatten keine Heimat“

Im Namen des Kreuzes: Bischof Heiner Koch, Kleiderspenden für Asylbewerber und Pegida-Demonstranten in Dresden Fotos: Michael Kappeler/dpa (2), Daniel Karmann/dpa, imago

Interview Philipp Gessler

taz.am wochenende: Bischof Koch, Flüchtlingshilfe ist Christenpflicht, Jesus selbst hat sie gefordert. Das heißt, jeder Christ ist verpflichtet, Flüchtlinge aufzunehmen oder ihnen zu helfen, oder?

Heiner Koch: Ja. Für uns Christen ist das schon deshalb eine Pflicht, weil wir glauben, dass in jedem Menschen in Not Gott selbst auf uns zukommt. Wenn wir jemanden abweisen, weisen wir Gott selbst die Tür. Es kommt nicht von ungefähr, dass in der ersten Phase des irdischen Lebenswegs Jesu eine Flucht steht, nämlich die nach Ägypten.

Nun ist diese Geschichte nicht historisch.

Sie gibt aber ein Stück der christlichen Spiritualität wieder, nämlich die tiefe Überzeugung der Christen, dass wir auf Erden keine ewige Heimat finden. Zum zweiten, dass die Menschen, denen elementare Lebensrechte und Bedürfnisse wie die der Freiheit oder der Anerkennung abgesprochen werden, Menschen sind, mit denen Gott selbst uns herausfordert und uns in ihnen nahe ist. Das heißt jedoch nicht, dass wir diesen Menschen nur helfen, um Gott nahe zu sein.

Wenn Jesus diese Hilfe für Flüchtlinge schon damals, vor rund 2.000 Jahren, gefordert hat, bedeutet das, dass es seinerzeit auch nicht weit her war mit dieser Hilfe?

Heiner Koch

Früher:Heiner Koch, geboren 1954 in Düsseldorf, wurde 1980 zum Priester geweiht. Von 2002 bis 2005 war er Generalsekretär des Weltjugendtages in Köln, seit 2006 unter Joachim Kardinal Meisner Weihbischof in Köln. Anfang 2013 wurde er Bischof in Dresden.

Heute:Koch folgt auf Rainer Maria Woelki als Erzbischof von Berlin. Am Samstag wird er in sein Amt eingeführt.

Das jüdische Volk, aus dem das christliche hervorgegangen ist, war ein Volk in der Migration, das immer weiter gezogen ist, das in gewisser Weise schon damals oft auf der Verfolgtenliste stand. Auch die Christen wurden schon bald vertrieben, sie hatten keine Heimat oder mussten sie mehrmals verlassen. Übrigens: Das lateinische Wort „hostis“ heißt „der Fremde“ und „der Feind“. Der Fremde war also auch immer der Bedrohliche, der Unsicherheiten ausgelöst hat. Es findet sich in der Bibel keine glorifizierte Migrantenfreundlichkeit.

Die Urerzählung des Judentums ist der Exodus, er hat in gewisser Weise dieses Volk geformt. Das Christentum steht in der Tradition des Judentums. Heißt das nicht, dass alle Christen im Geiste am Ende Flüchtlinge sind oder sein sollten?

Wir sind alle unterwegs. Die Sehnsucht des Menschen nach Heimat bleibt auf Erden letztlich unerfüllt. Das ist eine existenzielle Grunderfahrung aller Menschen.

Nun werden nach dem kurzen Sommer der Liebe für Flüchtlinge in ganz Europa wieder Grenzen geschlossen, auch von der Kanzlerin der Christlich-Demokratischen Union. Ist das christlich gehandelt?

Flüchtlinge aufzunehmen ist eine Entscheidung, kein Gefühl. Das muss man auch politisch abwägen. Ich glaube aber, dass wir noch lange nicht an die Grenzen unserer Möglichkeiten gelangt sind. Von christlichen Politikern erwarte ich allerdings, dass sie ihre politischen Entscheidungen in der Verantwortung eines tief verankerten christlichen Maßstabs fällen.

War es also zu früh, die Grenzen jetzt schon zu schließen?

„Die Idee des christ­lichen Abendlands war ja die Idee der Freiheit, der offenen Grenzen“

Ich glaube, es war eine Notreaktion auf das, was etwa in München passiert ist, dass man dort von Flüchtlingen überrannt wurde und nicht mehr in der Lage war, diesen adäquat zu helfen. Ich gehe nicht davon aus, dass das endgültig ist. Das ist aber etwas völlig anderes als das, was wir etwa in Ungarn erleben.

Sie waren ja bisher Bischof in Sachsen, dort liegt der Ausländeranteil bei 2,2 Prozent. Warum ist eigentlich die Angst vor Flüchtlingen dort besonders groß, wo es wenig Flüchtlinge oder Migranten gibt?

Ich habe mich das oft gefragt im vergangenen Jahr – und diese Woche wieder: Da waren 5.000 Menschen bei einer Pegida-Demonstration auf der Straße. Warum? Weder in Dresden noch Leipzig oder Heidenau kann man ernsthaft sagen: Wir sind überfordert. Einer der Gründe ist wohl: Es gibt hier bislang nur wenige Begegnungen mit Asylsuchenden. Nach meinen Erfahrungen im Rheinland, woher ich komme: Vieles entkrampft sich da, wo Begegnungen möglich sind. Wo der Fremde durch die Begegnung für mich ein Gesicht bekommt, wird das Thema nicht zu einer abstrakten politischen Frage, die Ängste provoziert. Abgesehen davon, dass manche die Frage der Flüchtlinge politisch instrumentalisieren, um eine andere Gesellschaft zu erreichen.

Können Sie das genauer sagen: Wer will da was?

Manche wollen über die Flüchtlingsfrage Unruhe in die bestehende demokratische Gesellschaft bringen, weil sie sie für falsch halten – das kann ich nach einigen Diskussionen mit Pegida-Leuten sagen.

Die Hetze gegen Flüchtlinge ist demnach für diese Gruppen das Vehikel, um gesellschaftlich mehr Einfluss zu gewinnen?

Bei einigen. Ich habe in der vergangenen Woche hier auf der Straße erlebt, dass ein gestandener Mann vor einer Schwarzafrikanerin mit zwei Kindern an der Hand demonstrativ ausgespuckt hat. Ich bin – seit Langem mal wieder – explodiert ihm gegenüber, auch zu der Frau bin ich gegangen, um sie zu trösten. Das kann ich überhaupt nicht mehr erklären: Wie kann man sich vor einer Frau mit zwei Kindern so verhalten? Das kann ich auch nicht mehr politisch oder strategisch verstehen. Was da an Hass und inneren seelischen Missständen aufscheint! Ich kann das nicht erklären.

Viele der Pegida-Demonstranten sehen ja das „christliche Abendland“ in Gefahr. Das ist, schaut man etwa auf die geringe Zahl der Muslime in diesem Land, absurd, oder?

Ja, natürlich. Nicht nur wegen der Zahlen. Die Idee des christlichen Abendlands war ja die Idee der Freiheit, der Internationalität, der offenen Grenzen, des weiten Raums, der über nationalstaatliches Denken hinausgeht. Ich habe es bei der sogenannten Weihnachtsdemonstration von Pegida in Dresden Ende vergangenen Jahres erlebt, als christlich-abendländische Weihnachtslieder gesungen wurden: Schon die erste Strophe kannten die meisten nicht, bei der zweiten hat kaum jemand mehr mitgesungen. Das ist alles das genaue Gegenteil von christlich-abendländisch.

Wenn nun auf diesen Demos auch ein Kreuz in Schwarz-Rot-Gold in die Höhe gehalten wird, heißt das, dass dies Christen sind, die auch gegen Ausländer sind?

Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wer dieses oft fotografierte Kreuz trug. Es ist jedenfalls ein Missbrauch des Kreuzes, das ist völlig klar. Das Kreuz steht für die grenzenlose Liebe Gottes. Die grenzenlose! Jesus lässt die Menschen nicht allein, die verfolgt werden, sterben oder getötet werden. Das ist eine Pervertierung des Grundgedankens des Kreuzes. Dass es bei Pegida Christen gab, weiß ich. Aber viele Christen haben sich von Pegida distanziert, als diese Bewegung sich radikalisierte, und dagegen demonstriert.

Papst Franziskus hat alle katholischen Gemeinden Europas aufgefordert, eine Flüchtlingsfamilie aufzunehmen. Wie wurde das in Ihrem bisherigen Bistum Dresden-Meißen aufgenommen: etwas zögerlich?

Im Gegenteil. Mit dem Aufkommen der Fremdenfeindlichkeit haben sich viele Gemeinden aufgerafft und erklärt: Wir können jetzt nicht mehr schweigen! Es ist ein Ruck durchs Bistum gegangen: Setzen wir eine Welle der Herzlichkeit gegen das Böse, das die Flüchtlinge auch erleben.

Warum aber tut sich Bayern in der Aufnahme von Flüchtlingen, glaubt man der CSU-Landespolitik, offenbar besonders schwer, obwohl es so katholisch ist? Ähnlich ist es in dem sehr katholisch geprägten Polen. Das widerspricht sich doch.

Ich sehe dort aber auch sehr herzliche Bilder. Für uns Christen liegt in der Aufnahme des Fremden eine Verheißung. Wir schneiden uns von der eigenen Glückseligkeit ab, wenn wir ihnen nicht helfen. Eine Grundmaxime des Christentums ist: Je mehr du teilst, umso reicher wirst du. Das wird nun konkret. Bisher hat man fast nur abstrakt über Flüchtlinge geredet. Die hat man in Wellen in Afrika gesehen, für die hat man vielleicht Geld gespendet. Jetzt aber rücken sie uns wortwörtlich auf die Pelle. Jetzt müssen wir als Christen zeigen, dass wir unseren Glauben ernst nehmen und dass er nicht nur Fassade und Tradition ist.

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