: Ein Gefühl unter der Oberfläche
HOMOEROTIK Alan Hollinghursts „Des Fremden Kind“ spürt dem Unerklärlichen eines Lebenswegs nach
Chronist des schwulen Lebens in Großbritannien. Dieses Etikett haftet dem englischen Schriftsteller Alan Hollinghurst an, seit ihm 1988 mit dem Roman „Die Schwimmbad-Bibliothek“ der Durchbruch gelang. Die Geschichte des schwulen Müßiggängers William Beckwith, der ziellos durch das London der achtziger Jahre, vor Aids, streift, konnte man kaum anders lesen.
Auch in seinem fünften Roman gibt der 1954 geborene Autor einen exemplarischen Querschnitt durch dieses heikle Kapitel, von der geheimen Liebe zwischen dem Dichter Cecil Valance zu seinem Collegefreund George Sawle am Vorabend des Ersten Weltkriegs bis zur eingetragenen Lebenspartnerschaft zwischen dem Autor Paul Bryant und seinem chinesischen Freund Bobby im Großbritannien des 21. Jahrhunderts. Damals schrieb man sich Briefe, inzwischen macht man seine Dates per SMS klar.
Die Geschichte der Homosexualität scheint in Hollinghursts neuem Band jedoch weniger explizit auf als in dem aufsehenerregenden Erstling. Zwar kommt auch Sex vor, von erregenden Momenten mit einem „Drall ins Aggressive“ bis zu solchen von postkoitaler Traurigkeit. Doch der Autor, lange Jahre Literaturredakteur der Times, hat die Homoerotik in ein Gefühl unter der Oberfläche spürbarer Erregung sublimiert. Eine, die sich nicht nur aus Erektionen speist, sondern aus biografischen und literarischen Entdeckungen. Im Grunde ist „Des Fremden Kind“ ein Buch über die Erinnerung, das Vergessen und das Unerklärliche eines Lebenswegs, einer menschlichen Existenz.
Paul Bryant wird am Ende eine Biografie des sagenumwobenen Valance unter dem schwülstigen Titel „England erzittert“ vorlegen, in der er den 1916 in der Schlacht an der Somme Gefallenen, der posthum zum Nationaldichter aufsteigt, als schwul outet. Doch die entscheidenden Liebesbriefe zwischen George (der als verheirateter Geschichtsprofessor endet) und Cecil (der als Marmorstatue in der Familiengruft ruht) sind bis zum Schluss unauffindbar. Und als Paul im Zuge seiner Recherchen Georges inzwischen über 80-jährige Schwester Daphne interviewt, der Valance an einem gemeinsamen Wochenende des Jahres 1913 sein berühmtes Gedicht „Two Acres“ gewidmet hatte, geht ihm auf, dass „Erinnerungen nur Erinnerungen von Erinnerungen“ sind – bis zur Unkenntlichkeit aufgeweicht durch die ewig verstreichende Zeit.
Hollinghurst will mit seinem jüngsten Roman ganz offenkundig den Fehler vermeiden, ein Remake seines Meisterwerks „Die Schönheitslinie“ von 2004 zu liefern. Darin entsprachen sich die nervöse Geistesgegenwart des Erzählers und die bis zum Zerreißen gespannten Sinnesnerven der beiden sex- und drogensüchtigen Protagonisten im Tory-England Margaret Thatchers. Diesmal schlägt der Erzähler einen gemächlicheren Tonfall an, der näher an Hollinghursts Vorbild Henry James ist als an Kazuo Ishiguro, einem anderen Vorbild und Booker-Prize-Träger wie Hollinghurst. Das führt zu einem gewissen Spannungsabfall. Doch immer wenn er mit psychologischer Raffinesse Milieu- und Charakterstudien betreibt oder zu den für seine Prosa charakteristischen Paradoxa greift, etwa „Paul war die Farblosigkeit in Person, nur eine Spur pink“, zeigt sich unübersehbar, was Hollinghurst ist und bleibt: einer der besten, einer der elegantesten europäischen Erzähler. INGO AREND
■ Alan Hollinghurst: „Des Fremden Kind“. Aus d. Engl. von Thomas Stegers. Blessing Verlag, München 2012, 687 Seiten, 24,95 Euro
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