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Die WahrheitEltern und Katzen

Kolumne
von Eugen Egner

Die nächsten Verwandten sind nicht immer leicht auffindbar. Manche verschwinden sogar auf mysteriöse Weise. Dann heißt es kreativ werden.

W as würde eine Person tun, die jemand auf die Idee gebracht hat, ihre verstorbenen Eltern lebten vielleicht in einem anderen Stadtteil weiter? Ist das nicht eine interessante Frage? Können Sie sich in eine solche Lage versetzen? Strengen Sie sich bitte etwas an, egal ob Ihre Eltern noch leben oder nicht. Nutzen Sie Ihre Fantasie!

Stellen Sie sich vor, Ihre verstorbenen Eltern seien Zoologen gewesen, spezialisiert auf Katzen und Katzenartige. Eines Tages wären die beiden von einem Institut beauftragt worden, an einem Projekt in Ma­laysia zu arbeiten, um seriöse Erkenntnisse über die Existenz einer Katzenart zu gewinnen, um die sich seit Menschengedenken grausige Legenden rankten, während nur wenig Konkretes bekannt war. Ein paar Spuren schienen so vielversprechend, dass es sich lohnte, zwei kompetente Forscher darauf anzusetzen. Der wissenschaftlich begründete Nachweis für das Vorkommen einer neuen Gattung in freier Natur wäre eine Sensation gewesen.

Ab und zu erhielten Sie, die Sie dies jetzt zur Übung Ihres Vorstellungsvermögens lesen, Briefe, selten auch Anrufe, von Ihren Eltern. Selbstverständlich verlautete darin nichts vom Stand der Forschungen, denn für die Mitarbeiter an dem Projekt bestand Schweigepflicht. Wohl gab es aber Andeutungen, dass das Unternehmen problematisch war. Dann kam lange keine Nachricht mehr. Schließlich erfuhren Sie vom Institut, Ihre Eltern seien einer Krankheit erlegen. Der Vorfall wurde als mysteriös bezeichnet.

Jetzt machen Sie sich auf, um Ihre Eltern in einem Stadtteil jenseits der Bahnlinie zu suchen, weil jemand zu Ihnen gesagt hat: „Vielleicht leben deine verstorbenen Eltern auf der anderen Seite der Bahnlinie weiter.“ Der Stadtteil ist wahrlich nicht attraktiv, in einer derartigen Umgebung können Sie sich Ihre Eltern nicht vorstellen. Doch wer weiß schon, was Verstorbenen gefällt ... Bei Ihrer Suche gehen Sie unsystematisch vor, wie Ihnen sehr schnell klar wird. Wie soll man so etwas aber auch planen?

Auf Ihrer planlosen Suche bilden Sie sich nunmehr ein, soeben aus einem Heim für schwachsinnige Kinder entflohen zu sein, weil Ihnen das eine gewisse Aura und somit das nötige Selbstbewusstsein verleiht. Allerdings müssen Sie vorsichtig sein und genau überlegen, wen Sie im Zusammenhang mit Ihrer fiktiven Identität ins Vertrauen ziehen.

Wenn nämlich jemand das Jugendamt informiert, riskieren Sie, von der Polizei aufgegriffen und, da Sie Vollwaise sind, ins Heim für schwachsinnige Kinder eingeliefert zu werden. Ihre Chancen, jemals wieder freizukommen, wären, wie Sie sich vorstellen können, minimal. Gehen Sie also lieber schweigend ans Werk und halten Sie die Augen offen.

Doch selbst dann können Sie kaum ernsthaft erwarten, Ihre Eltern gleich beim ersten Mal auf der Straße zu erblicken oder ihre Adresse zu erfahren. Es bedarf schon mehrerer Anläufe. Halten Sie durch, versuchen Sie es immer wieder. Katzen weisen Ihnen den Weg.

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