: Die große Koalition steht
Aus dieser turbulenten Woche geht die künftige Regierung stabilisiert hervor. Erfolgreich wird sie aber nur dann sein, wenn sie ihrer Politik eine Philosophie zu geben vermag
Glaubt man dem lauthalsen Geraune des öffentlichen Raumes, so stand Deutschland eine halbe Woche lang mal wieder am Abgrund. Von Krise war allenthalben die Rede. Doch wenn es eine solche war, dann kann man ihr im Nachhinein getrost attestieren, von Schumpeter’scher Schöpferkraft gewesen zu sein. Denn sie hat auf unvorhersehbare Weise hervorgebracht, was ansonsten noch Jahre untergründig pulsiert hätte. Die große Koalition hat diese Turbulenzen nicht nur unversehrt überstanden, sie steht nun stabiler da als zuvor. Denn sie hat zwei Asymmetrien begradigt, die absehbar ein Quell permanenter innerer Spannungen gewesen wären.
Die erste ist die Unwucht, die innerhalb des Kabinetts ein aufgeblähtes Wirtschaftsministerium und ein ebenso aufgeblähter Wirtschaftsminister Edmund Stoiber verursacht hätten. Die Verfassung kennt nur den Bundeskanzler, seinen Stellvertreter, die Bundesregierung als Gesamtheit und die Minister, wobei Ersterer die Richtlinienkompetenz hat. In Edmund Stoibers Vorstellung saßen jedoch drei gleichrangige Parteivorsitzende am Kabinettstisch.
Stoiber ist ein Verständnis von Regierungspolitik eigen, das sich an die Kohl’schen Praxis der permanenten Koalitionsrunden anlehnt. Von diesem Modell eines informellen Herrschaftsmanagements sagte der Politologe Wilhelm Hennis zu Recht, dass es zwangsläufig dazu führe, „dass nicht längerfristige, vorwärts weisende Zielstrebigkeit die Gespräche beherrscht, sondern immer neue Bedenken“. Denn die Parteiführer sind sich doch wesentlich nur in einem einig: bei allem was sie vorhaben, möglichst niemanden zu verprellen. Nicht in ihrer Partei, nicht in ihrem Klientel. Diese Gefahr ist mit dem unheimlich starken Abgang von Edmund Stoiber zwar nicht vollends gebannt, aber doch um einiges entschärft. Seinem Gestaltungsanspruch und damit auch seinem Störpotenzial sind enge Grenzen gesetzt, denn er ist nicht mehr das Kraftzentrum der CSU, vielmehr muss er in Bayern um seine Position kämpfen. Das eröffnet den beiden gleichrangigen CSU-Vertretern im Kabinett Michael Glos und Horst Seehofer einen größeren Freiraum. Das Ende der Ära Stoiber ist eingeläutet, doch noch ist nicht absehbar, wer und was danach kommt.
Doch nicht nur Stoibers Ende naht, auch die Ära der Brandt-Enkel ist beendet. Innerhalb von drei Tagen hat sich die SPD in einer unglaublich rabiaten Weise verjüngt. Die Generation von Heidemarie Wieczorek-Zeul, Gerhard Schröder, Hans Eichel und Wolfgang Clement war die letzte, die persönlichen Werdegang und die Entwicklung der Partei im Gleichklang dachten. Diese geradezu familiäre Bindung war der Boden einer anfänglichen Leidenschaft und zum Schluss der Quell eines starken Beharrungsvermögens und vielfacher Selbstzerstörung.
Mit dieser Generation treten zugleich die ersten Führungsfiguren der Ost-SPD Wolfgang Thierse und Manfred Stolpe ab. Beider Biografie steht noch für einen Brückenschlag von der DDR zum vereinigten Deutschland, ihr politisches Selbstverständnis ist entsprechend sozialstaatlich geprägt. Wofür das neue Personal steht, außer dem Anspruch, nach oben zu kommen, ist allerdings die große Frage. Ihren bisherigen Verlautbarungen lässt sich zwar eine Haltung, aber keine Richtung entnehmen. Vielleicht kommt es künftig vor allem auf Erstere an.
Obgleich dieser Generationenwechsel das Resultat der Entwicklungen der letzten Woche ist, stand an deren Anfang eine ganz andere Kontroverse. Was sich an der Personalie des Generalsekretärs entzündete, war die strategische Frage, wie die SPD künftig ein eigenständiges Profil entwickeln soll. In der letzten Legislaturperiode war das Bild der Partei durch das starke Spannungsverhältnis zur Regierungspolitik der Agenda 2010 geprägt. Diese wurde weitgehend theorie- und lustlos exekutiert, doch stand ihr auch kein halbwegs kohärenter linker Politikentwurf gegenüber, der die Regierungsfähigkeit gesichert hätte.
Bezeichnenderweise wurde der relative Wahlsieg vom 18. September von Gerhard Schröder mit einem sozial abgemilderten Kontinuitätsversprechen errungen. In dieser Kontinuität steht nun nicht mehr eine rot-grüne Regierung, sondern ein Bündnis mit der Union. Das macht die Identitätsfindung für die SPD ungleich schwieriger. Doch bestätigten der Wahlkampf und sein Ergebnis die Einschätzung von Franz Müntefering, dass die Partei nur durch, aber nicht neben oder gar gegen die Regierungspolitik Zuspruch der Wähler gewinnen kann.
Von daher war seine Ablehnung einer Doppelspitze Müntefering/Nahles konsequent. Dass Müntefering seinen Willen nur um den Preis der Amtsaufgabe durchsetzen konnte, kann man getrost als List der Geschichte betrachten – das machte den Weg frei für Matthias Platzeck. Damit ist die Frage des künftigen Kanzlerkandidaten der SPD beantwortet, bevor sie die gleiche quälende Wirkung entfalten kann, die man über Jahre bei der Union studieren konnte. In Platzecks Person ist nun die Polarität von Regierungstätigkeit und Partei aufgehoben. Auf diese Weise wurde die zweite Asymmetrie der großen Koalition begradigt.
Platzeck steht in der Kontinuität der bisherigen sozialdemokratischen Regierungspolitik. Dass er aus ihr heraus nun ein eigenes Profil der SPD formulieren muss, welches nicht nur die Partei bindet, sondern auch künftig die Wähler überzeugt, stellt ihn vor die gleiche schwierige Aufgabe, die Angela Merkel in der CDU zu bewältigen hat. Dass sie beide Naturwissenschaftler sind, aus der gleichen Wende-Kohorte des Ostens kommen und folglich einen ähnlichen Stil haben, wird die Verständigung über die Vorgehensweise vereinfachen.
Es gehört seit der ersten großen Koalition von 1966 bis 1969 zu den stehenden Politologenreden, dass in einer großen Koalition die zentrifugalen Kräfte zunehmen. Doch unterliegt sie 2005 einer anderen Dynamik. Die sozialen Milieus lassen sich nicht mehr klar zuordnen, die Wechselbereitschaft ist hoch und in einem Fünf-Parteien-System kann jedes Partialinteresse und jeder Unmut einen ihm genehmeren politischen Adressaten finden. Unter diesen Bedingungen liegt der strategische Vorteil der Koalitionspartner nicht so sehr in der jeweiligen Eigenprofilierung gegeneinander, sondern im Bonus des Regierens, den beide teilen. Es würde ihnen zum Nachteil gereichen, wenn sie ihn nicht voll ausnutzen, sondern sich auf ein Minimalprogramm überlappender Positionen beschränken.
„Sei rüde, sei ehrlich, mach es schnell“, so lautet die Formel des früheren schwedischen Ministerpräsidenten Göran Persson für erfolgreiche Reformprozesse. Daran wird sich die große Koalition messen müssen. Dem daraus erwachsenden sozialen Druck werden die Koalitionsparteien aber dann schlecht widerstehen können, wenn sie darauf verzichten, ihrer Politik eine eigene Philosophie zu geben. Diesen Fehler der rot-grünen Regierung sollten sie nicht wiederholen. Wer nur Notwendigkeiten predigt, kann schwerlich gewinnen. DIETER RULFF
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