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INTOLERANZ Bitte ohne Ei, ohne Käse, ohne Tomaten. Viele Menschen wollen nicht mehr alles essen. Dafür schlägt ihnen blanker Hass entgegen. Unsere Autorin verzichtet selbst auf vieles und fragt sich: Bin ich eine Spinnerin?Die unverträgliche Gesellschaft

Aus München und Berlin Maria Rossbauer (Text) und Juliane Pieper (Illustration)

Denise Wachter vom Stern zum Beispiel ist sich nicht sicher, ob ich noch ganz dicht bin. Evelyn Roll von der Süddeutschen Zeitung glaubt eher, ich sei besessen. Neuerdings bin ich immer wieder mal auf Titelblättern von großen Magazinen zu sehen, es gibt Fernsehsendungen über mich und Autoren widmen sich mir in ganzen Büchern. Susanne Schäfer schreibt, ich sei hysterisch.

Diese Menschen finden mich offenbar wahnsinnig interessant. Lieber hätte ich meine Ruhe, aber das kann ich mir nicht aussuchen. Denn ich bin Mitglied in einem Club, der gerade sehr in ist.

Dem Club der Bitte-ohne-Esser.

Bitte ohne Ei. Bitte ohne Käse. Ohne Brot. So bestellen wir im Restaurant.

Ich vertrage keinen Fruchtzucker, also frage ich die Kellner, ob sie den Salat bitte ohne das Apfel-Honig-Dressing machen können und statt dessen mit Essig und Öl.

Im Supermarkt schaue ich auf die Verpackungen, lese die Inhaltsstoffe und denke, bitte lass diesen Laden Sahne ohne Laktose haben. Laktase-Tabletten habe ich immer dabei.

Wenn Freunde kochen, frage ich, ob es das Essen bitte auch ohne Paprika geben kann, Brokkoli wäre okay. Den Wein bringe ich lieber selbst mit, von einem Winzer in Österreich.

Mein Alltag besteht aus Berechnungen, wie viel geht, wie viel gerade noch? Essen ist ständiges Bitten, für mich muss immer eine Ausnahme gemacht werden.

Zumindest war es lange so. Aber wir Bitte-ohne-Esser werden mehr.

Inzwischen verzichtet jeder Vierte in Deutschland auf irgendetwas. Wir sind so viele, dass Supermarktbetreiber wegen uns ihr Sortiment ändern, Restaurantbesitzer ihre Menükarten. Wer zu Hause für Freunde kocht, muss nachfragen, wer was nicht isst, getrennt kochen, anders einkaufen.

Bisher waren Menschen wie ich Sonderlinge, wir mussten uns nach den anderen richten. Jetzt fangen die anderen an, sich nach uns zu richten.

Zuerst hat mich diese Entwicklung gefreut. Es ist ein blödes Gefühl, Bittstellerin zu sein, und es schien, als könnte das endlich aufhören. Als würde ich bald meine Ruhe haben vor den fragenden Blicken, dem ungläubigen Staunen, dem ständigen Kalkulieren.

Dann kamen die Denise Wachters und Evelyn Rolls, die Susanne Schäfers.

Ruhe habe ich nun keine mehr, statt dessen herrscht eine Art Krieg – und ich bin mitten drin.

Was sollen die Angriffe, die Vorwürfe, die ganze Aufregung?

„Es ist eine umkämpfte Entwicklung“, sagt der Philosoph Harald Lemke. Im letzten Jahr erschien sein Buch „Über das Essen. Philosophische Erkundungen.“ Lemke sagt, bis vor einigen Jahren hätten wir Nahrungsmittel vor allem als Treibstoff gesehen. Als etwas, was man einfach so hineinschiebt, um zu funktionieren.

„Jetzt aber begreifen die Menschen langsam, dass die Welt des Essens komplexer ist.“ Was wir essen, hängt zusammen mit sozialer Gerechtigkeit, Gesundheit, gesellschaftlichen Werten.

„Ich ess Tomaten schon, außer, es gibt danach auch noch Tomatensoße“

Ulf Herrmann, Chef des Unternehmens Frusano. Er hat selbst eine Fructose­unverträglichkeit

Entsprechend aufgeladen ist der Konflikt zwischen denen, die so weiteressen möchten wie bisher, und denen, die eine Extrawurst verlangen.

Viele Alles-Esser fühlen sich von uns Bitte-ohne-Essern regelrecht belästigt. Das britische Marktforschungsinstitut Ears and Eyes befragte knapp 2.500 Deutsche. 43 Prozent der nicht von Allergien oder Unverträglichkeiten Betroffenen finden unser Gehabe übertrieben. Sie begründen ihre Abneigung mit zwei Argumenten.

Nummer eins: Wir sind Hypochonder, die jedes Ziepen im Bauch zu einer Krankheit hochjazzen. Wir haben keine echten Probleme in unserem hochindustrialisierten Schlaraffenland, darum erfinden wir welche, um uns mit uns selbst beschäftigen zu können.

Nummer zwei: Die Nahrungsmittelindustrie ist schuld. Firmen schwatzen uns Produkte auf, die wir nicht brauchen und verdienen sich damit Millionen.

Sind wir manipulierte Spinner? Bin ich eine Spinnerin?

Sieht man die Statistik an, könnte man denken: Ja. Der größte Ernährungstrend ist im Moment wohl glutenfreies Essen. Ein Prozent der Bevölkerung leidet an Zöliakie, manche Experten gehen auch nur von der Hälfte aus. Selbst wenn man noch die geschätzten 6 Prozent, die bisher als NGSler zusammengefasst werden – Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität – dazurechnet, kommt man lediglich auf 7 Prozent, die Gluten nicht essen sollten. 29 Prozent der US-Amerikaner versuchen sich jedoch glutenfrei zu ernähren, ermittelte das Marktforschungsinstitut NPD Group.

„Früher haben wir Ärzte geglaubt, die haben alle einen an der Klatsche“, sagt Annette Fritscher-Ravens. Ihr Lieblingsessen: Frühstück bei McDonald’s. Heute isst sie in der Kantine des Münchener Klinikums Rechts der Isar Reis und Gemüse mit weißer Soße.

Annette Fritscher-Ravens arbeitet am Uni-Klinikum Kiel und am Bupa Cromwell Hospital in London. Sie ist Gastroenterologin, sie hat sich als Ärztin auf den Magen-Darm-Trakt spezialisiert. In München besucht sie an diesem sonnigen Maitag eine Veranstaltung zur Forschung in der Endoskopie. Darum trägt sie eine graue Wollhose, eine weiße Bluse, die blonden Locken sind frisch frisiert. Während sie spricht, schiebt sie immer wieder ihre Ellenbogen auf den Tisch, wenn sie nachdenkt, reibt sie mit den Fingern ihre Schläfen.

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Sie spricht über Menschen, die jahrelang von Arzt zu Arzt rannten. Mit höllischen Bauchschmerzen, Kopfweh oder Konzentrationsproblemen und Schwellungen an den Augen. Mit den üblichen Tests fand keiner etwas. Also diagnostizierten die Ärzte: Reizdarmsyndrom. Was so viel heißt wie: Ihr spinnt ein bisschen.

Ungefähr 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung leidet an Reizdarm oder Reizmagen, schätzt die Techniker Krankenkasse.

In Wahrheit aber, sagt Fritscher-Ravens, konnte man nur nicht erkennen, dass diese Menschen tatsächlich eine Krankheit haben. Und zwar in vielen Fällen eine, die Nahrungsmittel verursachen.

Das Problem sei ein diagnostisches, sagt die Ärztin. Lange habe es überhaupt keine Möglichkeiten gegeben, das, was landläufig als Nahrungsmittelunverträglichkeit bekannt ist, festzustellen. Bis heute lassen sich nur wenige vernünftig nachweisen. Probleme mit Fruktose gehören dazu (die könnten 30 Prozent der Bevölkerung haben), außerdem Laktose (15 Prozent) sowie Zöliakie und Nahrungsmittelallergie (3 Prozent der Erwachsenen).

Wollen Ärzte herausfinden, ob jemand an Zöliakie leidet, nehmen sie Blut ab, testen auf bestimmte Antikörper und untersuchen Gewebe aus dem Dünndarm. Bei vermuteten Schwierigkeiten mit Laktose und Fruktose trinken die Patienten den jeweiligen Zucker in Wasser aufgelöst und pusten stundenlang immer wieder in ein Röhrchen. Am H2-Gehalt in der Atemluft sehen Ärzte, wie gut jemand Zucker abbaut.

So haben sie mich erwischt.

Jahrelang waren meine Magen- und Bauchschmerzen psychisch, wie man so schön sagt. Dann kamen diese Anfälle. Meist nachts, nach Festen: viele Menschen, Lärm, Lichter. Zuerst zogen grauen Wolken auf, legten sich über meinen Kopf, der Magen krampfte. Unruhe, Schwindelgefühl, fast schon Ohnmacht – und dann schlug mein Arm oder mein Bein umher.

Die Ärzte vermuteten Epilepsie. Sie vermaßen meine Gehirnaktivität, schoben mich in die große, graue Röhre. Sie fanden nichts.

Nur durch Zufall ließ ich irgendwann auf Unverträglichkeiten testen. Und nach zwei Atemtests war ich endlich freigesprochen davon, irgendwie nicht richtig zu ticken. So weiß ich heute auch, dass meine Anfälle nach langen Festen von viel Wein, Sekt, Obstsalat und Schokoladeeis kamen.

Ich habe das Glück, an etwas zu leiden, das sich erkennen lässt. Aber es gibt viele, denen eine ordentliche Diagnose verwehrt blieb und an denen weiterhin das Label „psychisch überlagert“ klebte. Die Spinner.

Das könnte sich nun ändern. Annette Fritscher-Ravens entwickelte mit Kollegen eine neue Diagnose-Methode.

Über die Speiseröhre schiebt sie den Patienten einen kleinen Schlauch mit Mikroskop und Laser in den Magen bis zum Zwölffingerdarm. Dann spritzt sie nacheinander vier in Flüssigkeit aufgelöste Substanzen auf die Darmschleimhaut: Weizen, Hefe, Milch und Soja.

Alles Stoffe, die häufig Probleme verursachen – und die wir täglich essen, sagt Fritscher-Ravens. Auf kleinen beigen Bildschirmen beobachtet sie in bis zu tausendfacher Vergrößerung, was passiert. „Wenn die Leute auf eine der Substanzen reagieren, sieht das aus wie ein Ausbruch des Vesuv“, sagt sie. „Die Zellen brechen komplett auf. Bei gesunden Menschen ist eben das nicht zu sehen.“

36 Menschen mit Reizdarmsyndrom hat Annette Fritscher-Ravens für ihre erste Studie untersucht. Zwei Drittel reagierten dabei auf einen dieser vier Stoffe.

„Was wir hier sehen, ist keine Allergie im klassischen Sinne“, sagt Fritscher-Ravens. Die wurden bisher als Überreaktion des Immunsystems auf einen eigentlich harmlosen Stoff definiert. Der Körper produziert dabei den Antikörper Immunglobulin E, der sich etwa an ein Eiweiß in der Kuhmilch bindet, erst daraufhin schlagen Abwehrstoffe zu.

Doch bei den Vulkanausbrüchen auf der Darmwand greifen die Lebensmittel direkt die Zellen an.

Vielleicht gelten bald die Salatesser als hysterisch. Oder die mit ihren Suppen

Eine Lebensmittelunverträglichkeit kannte man bisher auch anders. Als strukturelles Problem des Körpers. Dann fehlt diesem etwa das Enzym Laktase, das Milchzucker spaltet und damit verdaulich macht.

„Was das genau ist und wie es funktioniert, wissen wir noch nicht“, sagt Fritscher-Ravens. „Was wir tun, ist bloody Neuland.“

Doch immerhin können Ärzte nun, zum ersten Mal, dabei zusehen, wie der Körper mancher Menschen auf Lebensmittel reagiert. Ein wesentlicher Teil der Spinner also sind keine. Ihr Problem konnte man bisher nur nicht sehen. Oder wollte es nicht.

„Wir befinden uns inmitten eines großen gesellschaftlichen Umbruchs“, sagt Harald Lemke. „Unterschiedliche Kräfte und Interessen ringen darum, wie es mit unserer Ernährung weitergeht.“

Manche hätten Angst, Gewohntes zu verlieren. Essen kann nicht mehr per se ein gemeinschaftliches Ereignis wie früher sein. Was beim Fernsehen und Lesen schon passiert ist, geschieht nun auch beim Kochen: jedem das seine. Das alarmiert alle, denen westliche Gesellschaften ohnehin an zu viel Individualismus kranken.

Andere fürchten um die Leidenschaft. Rauchen und Trinken dürfen wir nun schon nicht mehr, soll nun die reine Vernunft auch noch über die Lust am Essen siegen?

Vielen ist das wachsende Wissen über das, was wir verspeisen einfach zu kompliziert.

„Wir erleben gerade eine Flut an Problematisierungen“, sagt Lemke. Auch weil Lebensmittel immer genauer analysiert und so potenzielle Gefahrenquellen überhaupt identifiziert werden können. Jede Woche ist ein anderer schädlicher Inhaltsstoff oder ein mieser Nahrungsmittelhersteller gefunden und oft genauso schnell wieder freigesprochen.

Was schadet, was ist okay? Und was ist nachhaltig, gerecht gegenüber denen, die es produzieren, den Tieren, die dafür gehalten werden? „Die Symptome sind so undurchsichtig“, sagt Lemke. „Da resignieren viele, und sagen: Och ne, das ist mir zu viel.“ Sie machen einfach nicht mehr mit, finden alle Entwicklungen bescheuert und berufen sich dabei darauf, dass früher alles noch viel schlechter war.

Das andere Extrem gibt es natürlich auch, die, die sich auf alles einlassen, die hier ein wenig auf Cholesterin achten, da auf Dioxin, auf Salz oder Antioxidantien.

Für ihre Entdeckung der neuen Unverträglichkeiten bekam Annette Fritscher-Ravens in Washington im Mai eine Auszeichnung der Rome Foundation. Die Stiftung kürte ihre im Fachmagazin Gastroenterology veröffentlichte Studie zur besten aus dem Jahr 2014.

Gerade ist sie in der zweiten Untersuchung. Vielleicht, in einigen Jahren, können sich Leute auf ihre Weise beim Gastroenterologen routinemäßig testen lassen. Auf noch mehr Stoffe, die irgendwo im Essen stecken. Dann gäbe es womöglich noch mehr Namen für Unverträglichkeiten, noch mehr Mitglieder in meinem Club.

Sieht man sich Fritscher-Ravens’Forschung an, könnte man glauben, es ist wahr – unser Essen macht uns krank. Bedrohen uns unsere Lebensmittel?

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„Die Anzahl der Menschen, die auf Fruktose, auf Haltbarmacher in Fertigprodukten oder auf ATI reagieren, steigt“, sagt Fritscher-Ravens. ATIs – Amylase-Trypsin-Inhibitoren – sind natürliche Abwehrstoffe gegen Parasiten in Getreide. Moderne Züchtungen enthalten oft doppelt so viele ATIs wie ältere Sorten. Diese ATIs, das vermutet die Deutsche Gesellschaft für Gastroenterologie, könnten der wahre Grund sein, warum Menschen ohne Zöliakie oder Allergie Weizen schlecht vertragen. Sie treten zusammen mit Gluten auf. Auch sogenannte FODMAPs, eine Gruppe von Kohlenhydraten und mehrwertigen Alkoholen, haben vermutlich eine wichtige Bedeutung. Das Eiweiß Gluten selbst schadet diesen Betroffenen wohl nur selten.

An dieser Stelle dürfen die Genervten kurz jubeln und später allen Bitte-ohne-Essern erzählen, dass gar nicht Gluten ihr Problem ist, sondern diese Stoffe mit den seltsamen Abkürzungen. Das freut sie bestimmt.

Das zweite große Argument, uns Bitte-ohne-Esser für plemplem zu erklären, ist die Verführung durch die Nahrungsmittelindustrie. Sie nutze unsere diffusen Ängste und Unsicherheiten skrupellos aus. Das Label „frei von“ sei ein Milliardengeschäft multinationaler Konzerne.

Was soll ich sagen. Ich liebe das Zeug. Laktosefreie Schokolade – endlich kann ich wieder bedenkenlos Schokolade essen. Wein mit extrem wenig Fruchtzucker – was habe ich den Wein vermisst.

Aber gut, ich schaue sie mir an, diese Großverdiener, die bösen Konzerne.

Konzerne wie der von Ulf Herrmann.

Vorsichtig schiebt Herrmann mit der Gabel die hellen Würfel von seiner Bruschetta. Er mag keine Zwiebeln, sagt er, lächelt schüchtern. Die Tomaten wird er essen, obwohl Fruktose drin ist. Ulf Herrmann ist fruktoseintolerant.

„Ich ess Tomaten schon, außer, es gibt danach auch noch Tomatensoße“, sagt er. Typischer Bitte-ohne-Esser, immer überschlagen: Was geht, wann wird es kritisch?

An diesem Mittag hat Herrmann in seinem Stammitaliener in München-Gräfelfing noch Nudeln mit Rucola-Pesto bestellt. Alexander Polanetzki, 28 Jahre alt, Vertriebsleiter bei Herrmanns Firma Frusano und ebenfalls fruktoseintolerant, isst den Fitnesssalat, für mich gibt es Nudeln mit Scampi.

Als wir feststellen, das wir eine kleine Fruktose-Selbsthilfe-Gruppe sind, wird erst einmal ausgetauscht: Wie machen das die anderen mit dem Essen, dem Rechnen von Fruktosegehalt in einem Menü, sagt man es nun bei einer Essenseinladung oder lieber doch nicht. Keiner erzählt das gerne.

Polanetzki arbeitet seit 2013 bei Frusano. Seine Diagnose bekam er ein Jahr später. Er sagt, seine Kollegen würden schon Witze machen, der Chef gebe ihnen was in den Kaffee.

Herrmanns Fruktoseunverträglichkeit fiel schon in seiner Kindheit auf. Er hatte ein kariesfreies Gebiss, mochte kein Eis, nichts Süßes.

Als Erwachsener fing er an, Marmelade mit Traubenzucker zu kochen. Er fand das spannend, auszuprobieren, ob das überhaupt funktioniert. Dann suchte er sich einen Schokolatier und ließ sich seine erste Schokolade mit extrem wenig Fruktose herstellen. 5 Kilogramm Zartbitter, seine Lieblingssorte.

Im Jahr 2006 verkaufte er die zum ersten Mal in einem Onlineshop und erfand das Label fruktosefrei. „Ich dachte, jetzt probier ich das mal, ob das auch andere kaufen würden“, sagt er.

Heute ist Ulf Herrmann – 42 Jahre alt, gelernter Toningenieur und Wirtschaftsingenieur, beiger Anzug, dunkle Augen, rasierter Kopf, randlose Brille – Inhaber der Firma schlechthin für Bitte-ohne-Esser wie mich.

Seine Produkte stehen in jedem Drogeriemarkt dm, in vielen Supermärkten und Kleingeschäften.

Seit Firmengründung 2006 ist Frusano jedes Jahr um 20 Prozent gewachsen, und so hat Herrmanns Konzern heute zehn Mitarbeiter. Vier davon sitzen in einem schmalen Raum im Gräfelfinger Industriegebiet an Schreibtischen, für Besprechungen gehen sie in den Konferenzraum der Gemeinschaftsbüroanlage. Die Wände hellgrün wie das Firmenlogo.

Im Keller arbeiten noch einmal sechs Menschen, packen Schokoladen, Fruchtaufstriche, Nudeln und Kekse aus den hohen Regalen in braune Pappkisten und verschicken sie an die Onlinebesteller. Das ist das Lager.

Eines ihrer erfolgreichsten Produkte sind die Gummibären Fili.

„Das hat zwei Jahre gedauert, bis die fertig waren“, sagt Herrmann. Sie mussten eine Firma finden, die die Bären für sie produziert. Dann die Bären so hinbekommen, dass die Konsistenz okay ist, dass sie so schmecken wie andere Bären.

Traubenzucker und Malzzucker verhalten sich anders als der übliche Kristallzucker, der zur Hälfte aus Fruchtzucker besteht, sagt Herrmann. Mal waren die Bärchen nicht hitzestabil, dann hielten sie Kälte nicht gut aus.

Die Nudeln sind gegessen, der Kellner bringt Nachtisch aufs Haus: Ricotta-Rhabarbereis. Wir lächeln alle verlegen, löffeln kurz hinein, keiner isst auf.

„In der normalen Erdbeere ist im Vergleich nicht so viel Zucker wie in einem Eis“, sagt Herrmann. 30 Prozent seien es im Eis, in Erdbeere ungefähr vier.

Das Wissen um die Zusammensetzung der Lebensmittel und die verschiedenen Zucker hat er sich über die Jahre angelernt. Vor sieben Jahren stellte er eine Ernährungswissenschaftlerin ein.

Auf den Fili-Tüten steht, wie auf meisten anderen Frusano-Produkten, inzwischen auch laktosefrei und glutenfrei.

„Die Händler haben danach gefragt“, sagt Herrmann. Sie wollten am liebsten Produkte haben, die möglichst ohne alles sind. Dann könnten sie die Spezialesser wie mich mit wenigen Produkten abspeisen und müssten weniger Regale freiräumen.

Auch Kunden wünschten sich immer mehr mit noch mehr ohne, erzählt Polanetzki. Jede Woche bekämen sie etwa drei Anfragen, mit Produkttipps zum Beispiel. „Dieser Trend ist gerade schon etwas übersteigert“, sagt Herrmann. Doch das pendele sich schon wieder ein.

Aber sind sie nicht die, die davon profitieren? Die ein dickes Geschäft machen?

Immerhin kostet bei Frusano vieles weit mehr Geld als vergleichbare normal hergestellte Lebensmittel. 50 Gramm Fili-Bärchen kosten 1,29 Euro. Für die selbe Menge Haribo Goldbären bezahlt man 24 Cent.

Doch Herrmanns Firma produziert weit weniger als große Firmen, mit höherem Aufwand. Die Entwicklungsarbeit kostet Geld und vor allem die Rohstoffe, alle bio. „Wir sind immer noch eine Nischenveranstaltung“, sagt Herrmann.

Für das Jahr 2014 steht in der Bilanz der Firma Frusano eine Gewinnrücklage von etwas mehr als 366.000 Euro. Der Gewinn floss also komplett zurück in die Firma. Sie erforschen jetzt unter anderem, ob sie die Fruktose aus dem Fruchtsaft bekommen.

Neue Diagnosen „Früher haben wir Ärzte geglaubt, die haben alle einen an der Klatsche“Annette Fritzscher-Ravens, Ärztin in KIEL und London

Die größere Nachfrage hat aus Frusano immerhin eine Kleinstfirma gemacht. Seit drei Jahren leisten sie sich richtige Büroräume. Davor war Frusano bei Herrmann zu Hause.

Im silberfarbenen VW-Bus fährt mich der Firmenchef vom Restaurant zurück zu meinem Auto.

Manche Firmen nutzen den Hype allerdings tatsächlich aus. Sie schreiben laktosefrei auf etwas, was von Natur aus annähernd laktosefrei ist, und verlangen dann mehr Geld. Das wirft die Hamburger Verbraucherzentrale dem Unternehmen MinusL vor.

Wenn ich ehrlich bin, nehme ich das MinusL allerdings nicht wirklich übel. Auch wegen denen kann ich leichter sehen, was ich essen kann und muss meine Zeit nicht mit der Lektüre von Inhaltsstoffen verschwenden.

Große Worte zum Essen

Das gestörte Verhältnis zum Essen ist ein beliebtes Thema der Literatur. Unsere Charts der schönsten Zitate:

5. „Natürlich habe ich keine Lust auf chinesisches Essen, verdammt, ist dieses Sperma schwer wegzuputzen, mir brennt der Magen immer davon, ist das wirklich so schwierig, sich nach fast zwanzig Jahren zu merken, dass mein verdammter Magen nach dem verdammten China­fraß brennt.“Sibylle Berg: „Der Tag, als meine Frau einen Mann fand“

4. „Der Prinz war Vegetarier, aber nicht, weil er Tiere liebte, sondern weil er so viele Pflanzen wie möglich vernichten wollte.“Karen Duve: „Die entführte Prinzessin“

3. „Ich bin so satt, ich mag kein Blatt: Mäh! Mäh!“Brüder Grimm: „Tischlein deck dich!“

2. „ ‚Willst du denn niemals Gemüse essen?’, fragte seine Mama. ‚Doch’, sagte Michel, ‚richtiges Gemüse.’Und dann setzte er sich in aller Stille hinter den Tannenbaum und begann an ihm zu knabbern.“Astrid Lindgren: „Michel in der Suppenschüssel“

1. „Ich esse keine Suppe! Nein! Ich esse meine Suppe nicht!“Heinrich Hoffmann: „Der Suppenkasper“

Der Hype macht mir also vieles leichter. Trotzdem nervt er mich.

Es wird so viel über unseren Club gesprochen, dass sich uns immer mehr Leute anschließen. Da gibt es die, die ihre Magersucht oder andere Essstörungen hinter einem Frei-von-Essen verstecken.

Andere haben Schmerzen und verzichten auf irgendetwas, waren aber noch nie beim Arzt. In der Berliner Charité haben sie 2004 getestet, wie treffsicher Selbstdiagnosen sind. Nur einer von zehn Menschen hat das Ernährungsproblem, das er vermutet.

Annette Fritscher-Ravens hatte in ihrer Studie keinen Patienten, der sich richtig einschätzte.

Körperlicher Ekel

Es gibt auch kulturelle Unverträglichkeiten, man nennt sie Nahrungsmitteltabus. Die Vorstellung, ein bestimmtes Essen zu verzehren, erzeugt gesellschaftlich Wider­willen:

Pferdefleisch: Seit dem Fund in Lasagne 2013 reißen Meldungen über Pferdefleischfunde in Hackfleisch und Fertigprodukten nicht ab. Zwar wird lauter Ekel formuliert, von gesundheitlichen Folgen liest man nicht.

Singvögel: Anders als in Italien oder Frankreich landen hierzulande Drossel und Fink nicht mehr auf dem Tisch. Die Thüringer Meisensuppe ist am Aussterben.

Lebertran: Vorläufer der Omega-3-Fettsäuren. Generationen von Kindern wurde ein Löffel davon unter großem Protest verabreicht. Das Öl, das aus Dorsch­leber gewonnen wird, beugt Vitamin-D-Mangel vor, schmeckt aber. scheußlich.

Die nächsten glauben, Gluten sei ein künstliches Produkt, hinzugefügt in der industriellen Landwirtschaft. Ihr Verzicht ist eher ein politischer.

Einige ekeln sich vor Käse und haben endlich einen medizinisch klingenden Grund dafür.

Dazu die Celebrities, die „Weizenwampe“ und „Dumm wie Brot“ gelesen haben und nun mit glutenfreier Ernährung kokettieren.

Und plötzlich kommen Menschen auf mich zu und sagen: Fruktose, oh ja, ich glaube, das hab ich auch ein bisschen. Da fühle ich mich manchmal wie ein Depressiver, der gerade aus der Psychiatrie kommt und der Erste, den er trifft sagt: Kenn ich! Ich bin auch ab und zu depressiv.

Nach Jahren habe ich endlich eine Erklärung für meine Anfälle. Ich verzichte auf vieles, dabei würde ich so gerne alles essen. Ich will unkompliziert sein. Aber nur so habe ich endlich meine Nächte wieder und die Kontrolle über meine Arme und Beine. Und jetzt kommen die Leute daher, die so tun, als wäre alles bloß ein Wehwehchen.

„Der Hype tut denen nicht gut, die wirklich krank sind“, sagt Annette Fritscher-Ravens. „Sie werden jetzt wieder einmal total fehlinterpretiert.“

Aber es gibt Hoffnung: „Die Stichworte laktosefrei oder glutenfrei werden wohl bald ersetzt durch andere“, sagt der Philosoph Harald Lemke. Ein Trend ist ein Trend. Er wird vorbeiziehen.

Vielleicht gelten bald die Salatesser als hysterisch. Oder die mit ihren Suppen. Und dann, dann kann ich endlich wieder in Ruhe essen.

Maria Rossbauer,34, ist Autorin der taz.am wochenende. Sie freut sich, dass sie Bier trinken kann, ohne sich Gedanken zu machen.

Juliane Pieper,39, arbeitet als freie Illustratorin in Berlin. Sie isst alles außer Innereien.

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