: Kurz mal nicht hingeschaut
Sexueller Übergriff Der elfjährige Jakob besucht nachmittags eine Tagesgruppe, um mit anderen Kindern in Kontakt zu kommen. Dort wird er von Gleichaltrigen gedemütigt, gequält, traumatisiert. Die Eltern erfahren erst zehn Tage später von ihrem Sohn, was wirklich passiert ist. Der Träger der Tagesgruppe gibt sich im Nachhinein selbstkritisch. Eine Rekonstruktion
von Antje Lang-Lendorff
Auf dem Erdbeerkuchen brennen die Geburtstagskerzen. Sie werfen einen warmen Schein auf Jakob*, einen für seine elf Jahre eher kleinen Jungen mit braunem Haar. Er sieht in diesem Moment sehr zufrieden aus. Auf der Wachstuchdecke vor ihm steht neben dem Erdbeerkuchen auch ein Schokokuchen mit Raspeln, den seine Mutter für ihn gebacken hat. Jakob blickt aufmerksam in die Kamera und lächelt leise. Ein Betreuer neben ihm und einige andere Jungen schauen fröhlich auf die festlich gedeckte Tafel.
Das Foto stammt von einem Donnerstagmittag im Mai, als Jakob in der Tagesgruppe des Kinder- und Jugendhilfezentrums in Neukölln seinen Geburtstag nachfeierte. Er besuchte dort die Nachmittagsbetreuung des Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerks (EJF).
Nur wenige Stunden später wurde Jakob von einem der anderen Jungen gedemütigt, gequält, traumatisiert.
Übergriffe passieren überall
Über sexuellen Missbrauch von Kindern durch Erwachsene wird immer wieder berichtet. Sexuelle Übergriffe unter Gleichaltrigen spielen in der öffentlichen Debatte eine weitaus geringere Rolle. Dabei kommen sie in mehr oder minder schwerer Form vielerorts vor (siehe Interview). Übergriffe können überall da passieren, wo Kinder auch mal unbeaufsichtigt sind. In Kitas. Auf Pausenhöfen. Oder eben in einer Tagesgruppe für Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten.
Jakob hat schon lange Probleme, mit Gleichaltrigen in Kontakt zu kommen. Er sei in der Schule von Beginn an gehänselt und ausgegrenzt worden, berichten seine Eltern. Mitschüler hätten ihn geschlagen, sogar gewürgt. Der Mutter steigen Tränen in die Augen, wenn sie davon erzählt. Sie arbeitet als Verkäuferin, der Vater ist selbstständiger Handwerker. Beide stammen aus Polen, sie wollen sich in Deutschland ein besseres Leben aufbauen. „Jakob und sein kleiner Bruder sollen in Berlin das haben, was wir selbst früher nicht hatten: Ruhe, Ausflüge, eine harmonische Familie“, sagt die Mutter.
Jakob wechselte die Grundschule. Ein Mal, zwei Mal. Ohne dass er in den Klassen wirklich ankam. An der Intelligenz liegt es nicht. Jakob sei durchaus begabt, schreibt eine Lehrerin in einer Beurteilung, doch könne er sich schlecht konzentrieren. Die Eltern sagen, ihr Sohn habe eine „Sozialkontaktstörung“. Um die besser in den Griff zu kriegen, ging Jakob mehrere Monate tagsüber in eine Klinik, besuchte dort den Unterricht und machte verschiedene Therapien mit.
Im Abschlussbericht wird Jakob als freundlich, respektvoll und aufgeschlossen im Umgang mit Gleichaltrigen und Erwachsenen beschrieben. Doch habe er „Schwierigkeiten in der Nähe-Distanz-Regulation“, ziehe plötzlich das T-Shirt hoch, duze Erwachsene, stelle unpassende persönliche Fragen. Er reglementiere zudem andere Kinder und mache sich mit Petzen unbeliebt.
Der Klinikaufenthalt endete im Februar dieses Jahres. Seitdem geht Jakob wieder auf die normale Grundschule. Das Jugendamt wollte, dass die Familie weiter unterstützt werde. Es vermittelte Jakob an die Tagesgruppe des EJF, die er nach der Schule besuchen sollte. Drei SozialpädagogInnen und ErzieherInnen in Teilzeit kümmern sich dort um sieben Kinder, auch ein Therapeut kommt regelmäßig in die Gruppe. Im Schnitt sollten mindestens zwei Fachkräfte vor Ort sein, heißt es vom Jugendamt.
Die Eltern willigten ein. Nach einem Treffen mit der zuständigen Mitarbeiterin im Jugendamt, den PädagogInnen der Tagesgruppe, dem Klassenlehrer und der Schulsozialarbeiterin wurde im Protokoll festgehalten, was die Betreuung bezwecken soll: „Jakob ist gestärkt und hat mehr Selbstbewusstsein. Jakob hat seine sozialen Kompetenzen erweitert und im Umgang mit seinen Mitschülern neue Handlungsstrategien erarbeitet. Konflikte mit Mitschülern haben sich verringert und werden gewaltfrei gelöst.“
Im Rückblick liest sich das wie Hohn.
An jenem Donnerstag im Mai waren neben Jakob noch zwei andere Jungen in der Tagesgruppe. Der Betreuer musste laut EJF zu einem Termin im Jugendamt, eine Erzieherin kümmerte sich um die Kinder. Sie erlaubte ihnen, auf dem Freigelände unbeaufsichtigt Fußball zu spielen. Sie selbst blieb drinnen.
Jakob muss sich hinlegen
Draußen zwang einer der Jungen Jakob, sich hinzulegen. Er steckte ihm den Penis ins Ohr, strich ihm damit über die Stirn. Jakob musste den Penis in den Mund nehmen. Dann wurde er angepinkelt.
So erzählen es Jakobs Eltern. So hat Jakob es ihnen erzählt. Auch das EJF bestreitet diese Geschehnisse nicht.
Die zuständige Erzieherin bekam all das nicht mit. Erst die Betreuerin einer anderen Gruppe des Kinder- und Jugendhilfezentrums wurde auf die drei Jungen aufmerksam, heißt es übereinstimmend. Sie habe dafür gesorgt, dass die Kinder wieder in ihre Räume kamen.
Psychotherapeut Udo Wölkerling, Leiter der Beratungsstelle Kind im Zentrum, bezeichnet das Beschriebene als „erhebliche Übergriffe“. Es sei vor allem wichtig, dass die Einrichtung in so einem Fall die Situation sofort unterbinde und für den Schutz des Opfers sorge. „Man muss schauen, wie das zustande kam und wie es verhindert werden kann“, so Wölkerling. Die Eltern hätten den Anspruch, frühzeitig informiert zu werden, auch gegenüber dem Jugendamt bestehe eine Meldepflicht.
In Jakobs Fall passierte erst mal: nicht viel. Denn wer wann von dem Ausmaß des Geschehenen wusste, darüber gehen die Aussagen auseinander.
Jakobs Eltern sind überzeugt, schon die Betreuerin der anderen Gruppe hätte gesehen, dass es sich um einen sexuellen Übergriff handelte, schließlich sei der eine Junge halb nackt gewesen. Auch habe Jakob einem Betreuer noch am selben Tag erzählt, was passiert sei. „Die Betreuer wussten das. Die haben versucht, das unter den Teppich zu kehren“, sagt die Mutter.
Das bestreitet das EJF. Der Sprecherin zufolge konnte „eine eindeutige Klärung des gesamten Vorfalls an diesem Tag nicht erfolgen“. Die Kinder seien deshalb getrennt nach Hause geschickt worden. Den Eltern sagte man nichts. Das EJF räumt im Nachhinein ein: „Auch wenn die Kinder alleine nach Hause gingen, hätten die Eltern seitens der Fachkräfte zumindest telefonisch über die ersten Erkenntnisse informiert werden müssen.“
In der Einrichtung habe es am folgenden Tag eine Besprechung der BetreuerInnen mit ihrem Vorgesetzten gegeben, so das EJF weiter. Dort sei beschlossen worden, die Kinder „genauer zu beobachten“ und „in Einzelsituationen zu dem Übergriff zu befragen“. Auch danach hätten die Kinder nur bruchstückhaft von den Ereignissen erzählt.
Sechs Tage nach dem Vorfall, am folgenden Mittwoch, lud man die Eltern ein, „um sie über den bisherigen Kenntnisstand persönlich zu informieren“. Der Vater bestätigt das. Der Betreuer habe ihm aber nur erzählt, Jakob sei angepinkelt worden. Er habe nicht gewusst, was er mit der Information hätte anfangen sollen.
Angst um das Sorgerecht
Irgendetwas stimmte nicht mit ihrem Sohn, so viel war klar. Jakob sei in dieser Zeit sehr verschlossen gewesen, berichten die Eltern. Er habe aufgehört zu sprechen. „Anders als sonst hat er keine Nähe mehr bei seinem Bruder oder bei seinem Vater gesucht. Manchmal wurde er aggressiv“, erzählt die Mutter.
Jakob wollte nicht weiter in die Tagesgruppe gehen. Aber weil es mit dem Jugendamt so verabredet war, weil die Eltern Angst hatten, sonst vielleicht irgendwann das Sorgerecht entzogen zu bekommen, schickten sie ihn trotzdem. „Wir haben ihn gezwungen, dorthin zu gehen, wo ihm das passiert ist“, sagt die Mutter. Den Gedanken können die Eltern kaum ertragen.
Vom EJF heißt es, Jakob habe sich erst am Freitag, acht Tage nach dem Vorfall, einem der Betreuer anvertraut und ihm vom ganzen Umfang des Übergriffes erzählt. Die Teamleitung erfuhr davon, ansonsten passierte auch dann nichts. „Leider wurde von der Teamleitung versäumt, zumindest die Eltern noch am selben Abend entsprechend zu informieren“, schreibt die EJF-Sprecherin.
Die Eltern erfuhren an diesem Wochenende von ihrem Sohn, was passiert war. Jakob schrie nachts in Albträumen auf. Die Eltern fragten nach, ließen nicht locker. Da erzählte er von dem Übergriff.
Aufgewühlt fuhr Jakobs Vater Anfang der Woche in die Einrichtung. Die Mutter rief derweil im Jugendamt an. Dort sei man zu diesem Zeitpunkt nicht informiert gewesen, heißt es vom Amt. Auch die zuständige Sozialarbeiterin machte sich auf den Weg. Es kam zum Krisentreffen in der Tagesgruppe. „Sie sagten mir, sie hätten nicht gewusst, wie sie uns das erzählen sollen“, berichtet der Vater empört. Man habe ihm angeboten, dass Jakob in der Gruppe bleiben könne. „Er wurde dort gepeinigt, was soll er da?“, fragt die Mutter.
Die Eltern wollen mit der Gruppe nichts mehr zu tun haben. Eltern und Jugendamt verabredeten noch, dass Jakob wieder in der Klinik vorstellig werden solle, wo er zuvor gut zurechtgekommen war. Doch Jakob wollte auch dort nicht hin, erzählen die Eltern. „Er will nur seine Ruhe. Jakob braucht jetzt Zeit“, sagen sie. Sie selbst gingen zur Polizei und erstatteten Anzeige.
Der übergriffige Junge habe Jakob ein Bild gemalt, zur Entschuldigung, erzählt die Mutter. „Aber was soll Jakob damit anfangen?“
In Berlin gibt es mehrere Beratungsstellen, die Hilfe anbieten:Der Verein Strohhalm kümmert sich unter anderem um Prävention von sexuellem Missbrauch an Mädchen und Jungen.Telefon: (030) 614 18 29,www.strohhalm-ev.de
Die Beratungsstelle Wildwasser wendet sich an Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die von sexuellem Missbrauch betroffen sind, auch an ihre Angehörigen.Telefon: (030) 282 44 27www.wildwasser-berlin.de
Die Anlaufstelle Kind im Zentrum berät nicht nur, sondern bietet auch sozialtherapeutische Hilfen für sexuell missbrauchte Kinder, Jugendliche und deren Familienangehörige.Telefon: (030) 282 80 77www.ejf.de/einrichtungen/beratungsstellen/kind-im-zentrum-kiz.html (all)
Udo Wölkerling von der Beratungsstelle Kind im Zentrum sagt, sexuelle Mittel würden von Kindern genutzt, um das Gegenüber zu erniedrigen, um Macht auszuüben. „Das Opfer macht die extreme Erfahrung, jemandem ausgeliefert zu sein.“ Es sei daher sehr wichtig, dem Kind zu vermitteln, dass das nicht in Ordnung ist.
Wenige Wochen nach dem Übergriff fuhr Jakob mit seinen Eltern im Bus an der Einrichtung vorbei. „Alles sah aus wie immer“, erzählt der Vater. Jakob habe das wütend gemacht. Er habe gesagt: „Ich will Gerechtigkeit.“ Da beschlossen sie, an die Öffentlichkeit zu gehen.
Das Jugendamt schreibt, die Informationsstruktur und die Abläufe in der Einrichtung seien nach dem Vorfall mit allen Beteiligten „kritisch erörtert“ worden. Den Eltern sei mehrfach Unterstützung angeboten worden, das hätten sie abgelehnt.
Aufsichtspflicht verletzt
Beim EJF ist man im Nachhinein sehr selbstkritisch. Der Träger räumt eine Verletzung der Aufsichtspflicht ein. Gegenüber den Eltern habe man das „sehr bedauert“, heißt es. „Wir waren und sind selbst erschrocken über das Ausmaß der ausgeübten Demütigung und Gewalt“, schreibt die Sprecherin. „Die interne Aufarbeitung des Übergriffs machte deutlich, dass sowohl eine Fehleinschätzung der anwesenden pädagogischen Fachkraft den Übergriff ermöglichte als auch eine zeitnahe Information gegenüber den Eltern und dem Jugendamt versäumt wurde.“ Um so etwas in Zukunft zu vermeiden, seien bereits „strukturelle und disziplinarische Maßnahmen eingeleitet“. Auch für den übergriffigen Jungen habe der Vorfall Konsequenzen gehabt: Er sei „bis zur Abstimmung mit dem Jugendamt“ aus der Tagesgruppe genommen und einzeln betreut worden.
Jakob bringt das nichts mehr. Auch andere, neue Maßnahmen des Jugendamts dürften ihn nicht mehr erreichen: Jakobs Mutter hat inzwischen ihren Job als Verkäuferin verloren. Sie habe wegen der Betreuung von Jakob zu viel gefehlt, sagt sie. Auch der Vater hat nicht genug Aufträge. Es geht ihnen das Geld aus. Das Vertrauen in die staatliche Jugendhilfe haben sie verloren. Im Sommer wollen sie nach Polen zurückziehen.
*Name geändert
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