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Mit aller Macht die Augen verschließen – das ist beschämend

ESSAY Der Historiker Jürgen Zimmerer über das Unvermögen der Politik, sich Deutschlands Kolonialgeschichte und den Folgen zu stellen

Welche Botschaft sendet dies aus über das wiedervereinigte Deutschland?

Der kritische Umgang mit der eigenen Vergangenheit, das schonungslose Aufdecken der dunklen Seiten der eigenen Geschichte, gehörte zum Staatsverständnis Deutschlands nach 1945. Es war in vielerlei Hinsicht so etwas wie die Wiedereintrittskarte in den Kreis der „zivilisierten“ Nationen nach den ungeheuerlichen Verbrechen des „Dritten Reiches“.

Vergangenheitsbewältigung und Wiedergutmachung ermöglichten es der deutschen Politik wie den einzelnen deutschen Bürgern, den europäischen Nachbarn und insbesondere den jüdischen Opfern und ihren Nachkommen wieder ins Gesicht blicken zu können.

Ganz anders geht Deutschland mit seiner kolonialen Vergangenheit um. Seit Jahren ist klar, dass das Deutsche Reich im damaligen Südwestafrika, dem heutigen Namibia, den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts verübte (1904–1908). Es ist bekannt, dass das deutsche Kolonialmilitär durch seine brutale Kriegsführung im Maji-Maji-Krieg in Deutsch-Ostafrika (1905–1907), dem heutigen Tansania, Verantwortung für mehrere Hunderttausend Opfer trägt.

Bekannt ist auch, dass auf Grund der Entscheidung Paul von Lettow-Vorbecks, gegen den Befehl seines zivilen Vorgesetzten die Kolonie zu verteidigen, im Ersten Weltkrieg über eine Million Menschen in Ostafrika ihr Leben verloren.

In seltsamer Einigkeit

Kein einziges offizielles Denkmal an zentraler Stelle erinnert jedoch in Deutschland an die Opfer von Krieg und Vertreibung in Afrika, an Genozid und den ersten Rassenstaat der deutschen Geschichte. Seit Jahren verweigern sich Bundesregierung, Bundestag und Bundespräsident in seltsamer Einigkeit der Anerkennung des Völkermordes in Namibia: Die mit Willy Brandts Kniefall verglichene Entschuldigung Heidemarie Wieczorek-Zeuls aus dem Jahre 2004 wurde nicht zum Anfangspunkt einer Aufarbeitung, sondern blieb Ausnahme.

Die Worte der damaligen Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit, die Verbrechen von einst seien das, was heute als Genozid bezeichnet würde, wurden längst zurückgenommen von der Bundesregierung. Diese argumentiert, die „brutale Niederschlagung des Aufstandes der Volksgruppen der Herero und Nama […] kann nach Auffassung der Bundesregierung nicht nach den heute geltenden Regeln des humanitären Völkerrechts bewertet und daher auch nicht als Völkermord eingestuft werden.“

Es ist kaum vorstellbar, eine deutsche Bundesregierung würde dies für den Holocaust erklären, nur weil die GenozidKonvention der UNO erst 1948 in Kraft trat. Als es im April dieses Jahres jedoch darum ging, die Türkei darüber zu belehren, der Genozid an den Armeniern müsse anerkannt werden, war von der für sich selbst reklamierten Nichtanwendbarkeit nichts zu hören: „Was die Nachfahren der Opfer aber zu Recht erwarten dürfen, ist die Anerkennung historischer Tatsachen und damit auch einer historischen Schuld“, erklärte Bundespräsident Gauck beim zentralen Gedenkgottesdienst in Berlin.

Es ist beschämend. Es droht die Erfolgsgeschichte der deutschen Vergangenheitspolitik insgesamt infrage zu stellen, wenn das historisch völlig unstrittige Abschlachten bzw. Verrecken-Lassen von bis zu 80.000 Männern, Frauen und Kindern einfach ignoriert werden kann, wenn der erste deutsche Genozid einfach geleugnet werden kann, auch weil Deutschland diesen Krieg gewonnen hatte und weder Herero und Nama noch Namibia insgesamt den nötigen politischen Druck aufbringen können.

Welche Botschaft sendet dies aus über das wiedervereinigte Deutschland, das seine Augen vor kolonialen Verbrechen einfach verschließt, während es gleichzeitig im Zentrum seiner Hauptstadt den Palast jener Dynastie wieder aufbauen lässt, die auch für die kolonialen Verbrechen steht; das kein Interesse an einem Denkmal für die Opfer des Kolonialismus hat, aber ein Humboldt-Forum errichtet, das vielen Kritikern einen kolonialen Blick auf die Welt zu perpetuieren scheint?

Und was bedeutet dies für eine deutsche Gesellschaft, in der der Anteil derer, deren Vorfahren aus einem anderen Land stammen, immer größer wird und unter denen viele sind, die mit Kolonialismus ganz eigene Erfahrungen machten? Wie kann man Rassismus in der deutschen Gegenwart bekämpfen, wenn es scheint, als würden die auf ihn zurückgehenden Exzesse in der Vergangenheit nicht ernst genommen?

Es geht also um viel mehr als „nur“ die Aufarbeitung von Ereignissen vor hundert Jahren. Es geht auch um das Selbstverständnis Deutschlands und sein Verhältnis zur Geschichte.

Jürgen Zimmerer ist Professor für Neuere Geschichte (Schwerpunkt Afrika) an der Universität Hamburg und Leiter der Forschungsstelle „Hamburgs (post-)koloniales Erbe“

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