taz-Serie Inklusion (9): Kleine Sternstunden
Die Martinschule wurde für geistig behinderte Kinder gegründet und nimmt auch Kinder ohne Förderbedarf auf. Das Konzept ist mutig.
Die Martinschule liegt mitten in der vorpommerschen Provinz und ist etwas Besonderes. Der Anteil an Kindern mit Förderbedarf liegt bei schwindelerregenden 41 Prozent. Die Grund- und Gesamtschule ist aus einer Schule für Kinder mit geistiger Behinderung hervorgegangen. Man hat hier also den Spieß umgedreht und sich auch für Kinder ohne Förderbedarf geöffnet.
Die Inklusionspädagogin Ines Boban unterrichtet an der Universität Halle-Wittenberg und weiß von einigen konfessionellen Schulen, die einen ähnlichen Weg genommen haben. „Dort sind die, die integriert werden sollen, die ‚normalen‚„, sagt sie, „das ist auf jeden Fall ein interessanter Ansatz.“
Die Klassenlehrerin der 1a, Katja Danter, 50 Jahre alt, hält sich erst mal im Hintergrund. Der Morgenkreis und die Zeit danach sind ritualisiert, die Kinder gestalten den Tagesanfang über 15 Minuten lang selber. Sie besprechen, welcher Tag heute ist, welche Jahreszeit, welcher Stundenplan vor ihnen liegt, sie singen ein Morgenlied, sprechen ein Gebet, fragen dann, wer hat was Spannendes zu erzählen?
Ein inspirierender Begriff
Danach beginnt Katja Danter mit ihrer Klasse ein Versteckspiel auf Englisch. „Wollen wir nach nebenan gehen?“ fragt Meik Grabow Sarah, die jünger wirkt als die anderen Erstklässler. Grabow arbeitet als pädagogische Unterrichtshilfe. Im Nebenraum spielt er das Spiel mit Sarah auf Deutsch.
Ines Boban erinnert gerne daran, dass Inklusion mehr ist, als Kinder mit Behinderung in den Unterricht einer Regelschule zu integrieren. „Es ist gut und ehrenwert, Kinder zusammen zu unterrichten. Aber Inklusion ist ein inspirierender Begriff und meint etwas anderes, nämlich Weitergehendes: eine Schule, die für niemanden, auch nicht für jemanden mit Migrationshintergrund oder Armutserfahrung, ein Hindernis darstellt.“ Die 2006 verabschiedete UN-Behindertenrechtskonvention wertet Inklusion als Menschenrecht.
Schulleiter der Martinschule ist Benjamin Skladny, 53 Jahre alt und Sonderschullehrer. Die Schule ist sein Lebenswerk. Sie war vor der Wende eine Fördertagesstätte, bis 2002 eine Sonderschule, anschließend kooperative Grund- und Gesamtschule. Bis 2011 hatten die „normalen“ Klassen mit „Sonderklassen“ lediglich kooperiert. „Dann haben wir das radikal aufgelöst“, sagt Skladny. Statt getrennten Klassen für Schüler mit und Behinderung, werden seitdem nur noch erste Klassen für alle Kinder gebildet. Inklusion also.
Und die funktioniert, der Bekanntheitsgrad der Schule wächst. Mittlerweile pilgern Schulleiter aus ganz Deutschland nach Greifswald. 520 Kinder besuchen die Schule, sie werden von 100 Lehrerinnen und Lehrern unterrichtet. 2014 hat der erste Jahrgang Abitur gemacht.
Nicht unumstritten
Das Motto, das Schulleiter Skladny vor sich herträgt, mantraartig wiederholt und hinter dem er nicht zurückweicht ist: „Keinen zurücklassen!“ Das hört sich gut an. Das heißt aber auch, dass an dieser Schule jedes Kind mit geistiger Behinderung angenommen wird, darunter auch solche mit schwersten und mehrfachen Behinderungen. Das ist nicht unumstritten, auch nicht unter seinen Mitarbeitern.
In einer dritten Klasse ein paar Räume weiter ist wie jeden Donnerstag „Selbstbestimmertag“. Die Lehrerin bespricht in der Kreisrunde mit den Schülern, wer was als Nächstes macht. Ein Junge hebt währenddessen die Arme wie zum Ententanz und singt dazu laut und hoch. Weil seine Integrationshelferin, die ihn normalerweise den Tag über begleitet, krank ist, kümmert sich die Klassenlehrerin um ihn.
Auf dem Boden vor ihm liegen laminierte Bilder. „Vom Laich zum Frosch“ lautet die Überschrift, der Junge soll sie für seine Jahresarbeit in die richtige Reihenfolge bringen. „Ich mag nicht“, sagt er, legt sich neben die Karten auf den Boden und beginnt wieder zu singen. Situationen wie diese lassen erahnen, in welchem Spannungsfeld sich die Lehrkräfte an der Martinschule jeden Tag bewegen. Und woran sie sich abarbeiten. „Komm schon, das kannst du“, sagt seine Lehrerin, vielleicht eine Spur barscher als gewollt.
Die Schule verfolgt zwei Ziele, beide mit großem Einsatz. Sie will eine moderne reformpädagogische Regelschule sein. Und eine gute Schule für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung. Zwei gleichrangige Ansprüche, die möglichst gut miteinander verschmelzen sollen. Das bedeutet, Kategorien wie „die“ und „wir“ gar nicht erst aufzumachen.
„Das ist die große Herausforderung“, sagt Katja Danter. In ihrer ersten Klasse schneiden die Kinder jetzt englische Begriffe und dazugehörige Bilder aus, ordnen sie zu und kleben sie auf ein Blatt Papier. Sarah schneidet mit einer Schere mit vier Fingerlöchern. Grabow hilft ihr.
Improvisation und Mut zur Lücke
Die Räume in der Martinschule sind großzügig, mehrere Zimmer sind zusammengefasst. Jede Klasse hat ihren Garderoben- und Sanitärbereich. Es gibt eine Kuschelecke und eine Küchenzeile, eine Leseecke mit Sofa. Böden und Wände sind in warmen Farben gehalten. Und zu jeder Klasse gehören drei bis vier Personen: neben der LehrerIn auch pädagogische UnterrichtshelferInnen, IntegrationshelferInnen und eine SonderpädagogIn.
Der Unterricht ist Teamarbeit. Das erfordert dauernde Absprachen und Debatten, auch Improvisation und Mut zur Lücke. Die Klassenleiterin, Katja Danter, macht nicht alles selbst, eher ist sie die Koordinatorin, bei der die Fäden zusammenlaufen. Auch die Schüler sind Teil der Unterrichtschoreografie, sie organisieren selbstständig den Morgenkreis, die Mahlzeiten und andere Aufgaben in den Räumen.
Viele Eltern schätzen die Martinschule vor allem wegen der vielen Möglichkeiten, die sie bietet. Sie habe ihr Kind hier angemeldet, weil dies eine gut ausgestattete reformpädagogische Schule sei, sagt eine Mutter. Wie viele Eltern wünscht sich die Frau in erster Linie, dass ihr Kind gut gefördert wird, möglichst bis zum Abitur. Inklusion soll dabei nicht stören.
Hochschullehrerin Boban glaubt, dass es grundsätzlicher Veränderungen im Schulsystem bedarf, um Inklusion an allen Schulen zu ermöglichen. Sie träumt von demokratischen Schulen, freien Orten, an denen Kinder und Jugendliche das lernen können, was sie wollen. Sie plädiert dafür Leistung und Wertschätzung zu entkoppeln und Schulabschlüsse weniger wichtig zu nehmen.
Kann es klappen?
Die Schere zwischen dem Klassendurchschnitt und Kindern wie Sarah wird im Laufe der Zeit weiter auseinandergehen. Funktioniert das Modell auch noch in der 5., 7., 10. Klasse? Oder wird für die Kinder mit geistiger Behinderung künftig das Gefühl des Versagens im Zentrum stehen, werden die anderen genervt sein von den Störungen? Im nächsten Schuljahr kommt der erste Inklusionsjahrgang in die 5. Klasse. Im Kollegium gibt es Lehrer, die in der Sekundarstufe keine Inklusion mehr wollen.
Für Benjamin Skladny kommt nichts anderes infrage. „Es geht nicht darum, ob wir es schaffen oder nicht“, sagt er, „es geht nur darum, was wir brauchen, um es zu schaffen.“ Alles andere wäre für ihn ein Schritt zurück. „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“ steht auf einem Plakat in seinem Arbeitszimmer. Ein Zitat aus der Bibel, die Jahreslosung 2013.
Mit der zukünftigen Stadt ist das Jenseits gemeint. Trotzdem ist es ein Bild, das passt, auch für diese Schule. Die hat sich von einer Aufbewahrungsanstalt zu DDR-Zeiten, in der Kinder zwischen 0 und 18 Jahren abgegeben und betreut wurden, zu einer wegweisenden Institution entwickelt. Ein Experimentierfeld dafür, wie viel Gemeinschaft möglich ist, wie und ob eine Schule für alle funktionieren kann.
Katja Danter erzählt von Kindern mit Förderbedarf, die gerade durch das inklusive Modell über sich hinaus gewachsen sind. Schneller als im alten System Lernfortschritte erzielt haben. Und dass für ihre Kinder Verschiedenheit selbstverständlich ist. „Für die Kinder gibt es keine Kategorien ‚behindert‚ oder ‚nicht behindert‚, sondern verschiedene Arten und Tempi zu lernen.“ Sie erzählt, dass ihre Schüler gelernt haben, einander einzuschätzen, Toleranz zu üben, aber auch zu sagen und zu zeigen, wann sie sich gestört fühlen. Am Ende, glaubt sie, profitieren alle.
Und es gibt Momente die nahelegen, dass sich die ganze Mühe lohnen könnte. Kleine Sternstunden. Dem Jungen, der im Morgenkreis nichts sagen wollte, flüsterten die anderen Kinder das Wort zu. Er schwieg weiterhin. Dann sagte seine Sitznachbarin „eight“. Machte einfach weiter. Ohne Irritation, ohne Kommentar, und ohne dass die Klassenlehrerin sich einmischen musste.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen