: Wir holen mal schnell den Wagen
VERKANNTE AUTOSTADT Der Volkswagen-Standort Wolfsburg, im Nationalsozialismus gegründet, hat kein gutes Image. Dabei birgt er unglaubliche Schätze zum Beispiel moderner Architektur
von Joachim Göres
Regelmäßig fahren rund 70.000 Menschen nach Wolfsburg zur Arbeit. Mehr als 1.000 Pendler kommen alleine aus Berlin mit dem ICE – falls der Lokführer nicht durch den Wolfsburger Bahnhof rauscht, weil er den Halt vergessen hat. Dann ergießen sich Hohn und Spott über die 125.000 Einwohner zählende Stadt.
Auch erinnert man sich gern an den ehemaligen Fußballprofi Valdas Ivanauskas, den heute vermutlich kaum noch einer kennen würde, wenn ihm nicht seine Frau in den 1990er-Jahren den Wechsel aus Hamburg nach Wolfsburg mit den Worten verboten hätte: „Valdas, ich liebe Dich, aber ich kann nicht in Wolfsburg leben.“ Worauf Familie Ivanauskas nach Salzburg zog.
Dabei gibt es jährlich sogar eine halbe Million Menschen, die freiwillig von weit her nach Wolfsburg gefahren kommen – allerdings nur, um ihren neuen Volkswagen in der Autostadt abzuholen. Im Automuseum kann man sich dann auch über alle Marken des Konzerns informieren, sein Geschick an Fahrsimulatoren testen, im Drei-Sterne-Restaurant des zur Autostadt gehörenden Fünf-Sterne-Hotels „The Ritz Carlton“ fürstlich essen.
Doch warum sollte man nach Wolfsburg reisen, wenn man dort weder arbeitet noch etwas mit Autos oder exklusiven Speisen am Hut hat? „Es gibt keine andere Stadt in Deutschland, in der man auf so engem Raum die Entwicklung der Architektur des 20. Jahrhunderts so plastisch erleben kann“, sagt Nicole Froberg, Leiterin des Wolfsburger Forums Architektur.
Als Wolfsburg von Hitler 1938 als nationalsozialistische Musterstadt gegründet wurde, um hier mit dem Bau des Kraft-durch-Freude-Wagens den Startschuss für die Massenmotorisierung zu geben, entstand auch die bis heute dominante Grundstruktur des Ortes: Der Mittellandkanal und die Bahnstrecke trennen das Werk strikt von der Stadt.
Da gibt es die dreigeschossigen Blöcke mit den grünen Innenhöfen im Zentrum aus den 1940er-Jahren. Eine im Original eingerichtete Wohnung kann heute noch besichtigt werden. Oder die autogerecht angelegten, skandinavisch geprägten Viertel mit zahlreichen Hochhäusern aus den 1960er- und 1970er-Jahren. Drumherum immer großzügige öffentliche Grünflächen.
„Eintöniger Beton, wohin man auch schaut“ – das ist eine Kritik vor allem derjenigen, die hier nicht leben, sondern Gründerzeitbauten vorziehen. Die sucht man in Wolfsburg tatsächlich vergeblich. „Es gibt in Deutschland viele schönere Städte als Wolfsburg. Aber die Stadt hat unheimlich viel zu bieten. Ich sehe die vier Volkswagen-Schornsteine, die in der Adventszeit beleuchtet sind. Ich glaube, so was Cooles findet man sonst nirgendwo“, sagt die aus den USA stammende Hochschuldozentin Gretchen Schaupp in der Zeitschrift Freischwimmer.
Es sind in erster Linie die vielen einmaligen Gebäude von teils weltbekannten Architekten, die ins Auge fallen. Zum Beispiel das Theater nach Plänen von Hans Scharoun, dessen äußere Struktur die innere Gliederung abbildet und wie eine kleinere Ausgabe der Berliner Philharmonie wirkt. Oder das Kulturhaus des Finnen Alvar Aalto, der den Räumen mit verschiedenen Hölzern besondere Atmosphäre verleiht.
Ein touristisches Highlight ist auch das 2005 eröffnete Wissenschafts-Center Phaeno nach dem Entwurf der Iranerin Zaha Hadid, für das ein spezieller Beton entwickelt wurde und das die britische Zeitung The Guardian zu einem der zwölf bedeutendsten modernen Bauwerke zählt. Innen kommen besonders Kinder und Jugendliche auf ihre Kosten, wenn sie ausprobieren können, wie zum Beispiel Tornados entstehen. Bis zum 2. September läuft übrigens eine Ausstellung über Flipper-Automaten.
Sehr exklusiv ist auch das mit blauen Blechen verkleidete Planetarium von Ulrich Müther – der DDR-Stararchitekt hatte ein besonderes Beton-Verfahren entwickelt, um filigrane Schalenkonstruktionen herzustellen. Die in Wolfsburg stehende Dreiviertel-Kugel, die wie ein Ufo wirkt, gehört heute zu den wenigen gut erhaltenen Bauten Müthers.
In den Genuss einer besonderen Akustik kommt man wiederum beim Besuch des einstigen Hallenbades, in dem heute Pop- und Jazzgrößen zwischen weißen Kacheln und illuminierten Sprungtürmen auftreten.
Spitzenkünstler garantieren zudem die jährlichen Movimentos Festwochen, bei denen in der Autostadt und in den riesigen Hallen des sonst nicht zugänglichen VW Kraftwerkes internationale Stars aus der Tanz-, Schauspiel-, Klassik- und Jazzszene auftreten.
Die Autostadt, die jährlich zwei Millionen Besucher zählt, versucht zudem mit Angeboten für Kinder und Jugendliche nicht nur den klassischen Autoabholer anzusprechen. Ab Ende Juli bis Ende August locken dort auch Sommerabende mit französischem Flair und Konzerten. Moderne Kunst der internationalen Spitzenklasse verspricht das 1994 erbaute Kunstmuseum, das auf Initiative des damaligen VW-Vorstandsvorsitzenden Carl Hahn entstand.
Dank der Steuerzahlungen des mit Abstand größten Arbeitgebers der Region kann man sich in Wolfsburg Investitionen leisten, die in den meisten Städten undenkbar wären: Mehr als 30 Millionen Euro wurden für das Freizeitbad Badeland ausgegeben, 53 Millionen Euro flossen in das Fußballstadion des VfL, 79 Millionen Euro kostete das Phaeno. Mit den Millionen von Volkswagen als Sponsor hat sich in Wolfsburg eine international beachtete Fußballmannschaft etabliert – die sich seit Kurzem ein eigenes Museum für ihre Fans gönnt.
Wem dieser Hang zu Spitzenkunst, Spitzenarchitektur, Spitzensport und Spitzeninvestitionen auf die Nerven geht, dem wird in Wolfsburg auch alles eine Nummer kleiner geboten. In den Stadtteilen Fallersleben und Vorsfelde finden sich zahlreiche Fachwerkhäuser. Im Fallersleber Fachwerkschloss ist ein Museum Heinrich von Fallersleben gewidmet, dem Texter der Nationalhymne. Dort kann man seine Kinderlieder und -gedichte anhören und den Dichter als Kämpfer für bürgerliche Freiheiten kennenlernen.
Für italienisches Flair sorgen die zahlreichen italienischen Cafés und Restaurants; gemessen an der Einwohnerzahl leben in keiner anderen deutschen Stadt so viele Menschen mit italienischen Wurzeln. Ihre Vorfahren kamen während des Nationalsozialismus zum Aufbau der Stadt und später als Gastarbeiter zu VW. Über diese und andere Facetten der Geschichte der jüngsten deutschen Großstadt kann man sich im historischen Museum informieren, das sich im mehr als 700 Jahre alten Schloss Wolfsburg befindet.
Bleibt noch die Frage, warum es so viele Menschen gibt, die nach Wolfsburg pendeln, statt dort zu leben. Das hat in erster Linie mit dem Wohnungsmangel zu tun. Die zum Autokonzern gehörende Wohnungsgesellschaft Volkswagen Immobilien, schon heute einer der größten Vermieter in der Stadt, will in den nächsten Jahren 1.500 neue Wohnungen bauen, die dann für eine Netto-Kaltmiete ab 9,70 Euro den Quadratmeter vermietet werden sollen.
Bei der Anreise mit dem eigenen Auto sollte man übrigens die Zeiten des Schichtwechsels im Volkswagen-Werk im Hinterkopf haben. Dann nämlich sind die vierspurigen Straßen verstopft. Wolfsburgs ehemaliger Oberbürgermeister Rolf Schnellecke bringt es so auf den Punkt: „Einst waren wir die jüngste und kinderreichste Stadt in Deutschland, heute sind wir nur noch die autoreichste.“
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