: Bauen entlang der Utopie
ARCHITEKTUR Konsens über den Wert der Moderne: Die Tagung „Verflechtungen“ in der Berlinischen Galerie fragte nach dem „Planen und Bauen im Berlin der 1960er Jahre“
von Ronald Berg
„Radikal modern“ war die Architektur der sechziger Jahre, die derzeit in der gleichnamigen Ausstellung der Berlinischen Galerie zu sehen ist. Dort veranstalteten am Freitag die TU Berlin und das Institut für Regionalplanung und Strukturplanung (IRS) in Erkner auch eine Tagung zum gleichen Thema. „Inwertsetzung“, mit diesem Wort bezeichnete Kerstin Wittmann-Englert, Architekturgeschichtlerin an der TU, schon zu Beginn das Ziel der Veranstaltung.
Dass das Ziel einer wissenschaftlichen Tagung vorab bereits als Losung ausgegeben wurde, wunderte wenig unter den zahlreich erschienenen Teilnehmern. Die Fans der modernistischen Sechziger waren unter sich. Warum die Moderne in Architektur und Städtebau dieser Zeit nach jahrzehntelanger Schmähung wieder zu Ansehen kommen sollen, war nicht das Thema. Der Wert der modernistischen Planungen, die ungefähr in die sechziger Jahre fällt, wurde schlicht vorausgesetzt.
Mangel an Methoden
Eigentlich lautete der Titel der Tagung aber „Verflechtungen“, was die Konvergenz der Architekturentwicklung in beiden deutschen Staaten zu besagter Zeit ebenfalls vorab postulierte. Die Referenten der Tagung schienen aufgefordert, diese These nur noch erläutern zu sollen. Wolfgang Pehnt, Architekturhistoriker und ursprünglich aus Verlagswesen und Rundfunk stammend, tat das in feuilletonistischem Plauderton, indem er die Stellung der deutschen Architektur im Ausland mit Rekurs auf einige amerikanische Architekturhistoriker beschrieb. Die (west‑)deutschen Architekten kommen in deren weltumspannender Schau so gut wie gar nicht vor. Dies könnte der Ignoranz der Amerikaner geschuldet sein – zumal jede Wertung immer subjektiv ausfällt. Was schon bei Pehnt deutlich war und im Weiteren für die ganze Tagung kennzeichnend wurde, war der Mangel an plausiblen Methoden, mit denen historische Entwicklungen und deren Ursachen dargestellt und qualitative Aussagen über bestimmte Bauten oder Architekturformen nachvollziehbar formuliert werden könnten.
Gerade beim Vortrag von Thomas Topfstedt vom IRS war zu spüren, dass es ihm nur um eine Rehabilitierung des Baugeschehens in der DDR ging. Die DDR habe sich nämlich nach Ende des stalinistischen Zuckerbäckerstils ab Mitte der fünfziger Jahre an westlichen Vorbildern orientiert. Der in Ostdeutschland praktizierte Plattenbau kam bei Topfstedt als „industrielle Bauweise“ zu neuen Ehren. Sein Fazit: Die Übernahme von modernistischen Ideen aus dem westlichen Ausland etwa bei der Gestaltung der Prager Straße in Dresden oder von Halle-Neustadt sei „kein mühsames Nachbuchstabieren, sondern ein kreativer Aneignungsprozess in den Möglichkeiten des eigenen Landes“ gewesen. Das klang arg nach Verniedlichung von Mangelwirtschaft und der Bevormundung der Städteplaner durchs Politbüro. Aber auch das wurde ohne Widerspruch hingenommen.
Mit einer Ausnahme: Thilo Hilpert, Städtebauarchitekt, Soziologe und Publizist Jahrgang 1947, stellte als Einziger den unausgesprochenen Konsens der ganzen Veranstaltung in Frage. Hilpert fiel schon formal aus der Rolle. Er redete frei, gebärdete sich belustigt, betrieb heftiges Namedropping, beklagte, dass heute keiner mehr lese und stellte zudem nebenbei zwei dissidente Thesen auf. Erstens: Der Plattenbau in der DDR sei eine ökonomische Notwendigkeit gewesen und die theoretische Legitimation dieser Praxis mit Berufung auf das Bauhaus sei ein „Trugschluss“. Zweitens bezweifelte er die von Topfstedt illustrierte „Konvergenzthese“, wonach die Bauentwicklung in Ost und West in der Zeit der sechziger Jahre sich einander angeglichen hätte.
Zu diesem Eindruck kann man tatsächlich kommen, wenn man sich allein dem Augeneindruck hingibt, wie es Andreas Butter mit seiner Vorführung von Bautypologien tat. Im Bild nebeneinander gestellt, sehen sich dann das Café Moskau an der Karl-Marx-Allee (Ost) und das Café Kranzler am Ku’damm (West) verblüffend ähnlich. Aber auch hier offenbarte sich der Mangel an Methode. Der bloße Bildvergleich bleibt an der Oberfläche und kann zwischen äußerlicher Ähnlichkeit und wesenhafter Gleichartigkeit nicht unterscheiden.
Die polnische Promovendin Monika Motylinska war mit ihrer „Diskursanalyse“ à la Foucault daher ein echte Bereicherung der Tagung. Ihr Material waren die in Reiseführern, Tourismuswerbung und Reklame gemachten Aussagen zum Bild (West-)Berlins in den Sechzigern. Das Image der Moderne dieser Zeit, in der in Berlin ungeheuer viel gebaut wurde, war positiv und sollte positiv sein, schließlich wollte man Berlin vermarkten. „Berlin bleibt doch Berlin“, war der Slogan, mit dem das neugebaute Stadtbild an den Mythos der untergegangenen Vorkriegsmetropole angebunden werden sollte. Der Spruch prangte auch als Leuchtschrift auf dem Schimmelpfeng-Haus am Breitscheidplatz. Eines jener stilbildenden Gebäude der Nachkriegsmoderne, das mit Billigung der Politik 2009 abgerissen wurde.
Der bestehende Denkmalschutz hatte den Bau auch nicht retten können. Offenbar gibt es immer noch Schwierigkeiten, den Wert solcher Bauten für die Öffentlichkeit zu vermitteln. Wittmann-Englert machte in ihrem Vortrag die Wertefrage zwar zu ihrem Thema und erläuterte die Anfälligkeit der minimalistischen Architekturgestaltung der Sechziger auch nur für kleinste Veränderungen, aber bei Aussagen über den „Kunstwert“ solcher Bauwerke hielt sie sich zurück.
Wenn die Tagung also für eine Aufwertung der Moderne der sechziger Jahre plädierte, dann hätte man doch gerne gewusst: warum? Doch darauf gab es keine Antworten. Einzig Thilo Hilpert hatte hier noch einen Tipp parat. Er erinnerte daran, dass Utopien deshalb wichtig seien, weil an ihnen „entlang gebaut“ wird. Seit Mitte der Siebziger aber beginnt dieser utopische Horizont zu verschwinden.
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