piwik no script img

„Die Ghettos sind durchmischter“

Der Kölner Filmemacher Peter Schran beobachtet seit Jahren die Lage der jungen Migranten in NRW. Auch hier könnte es zu kollektiven Ausbrüchen kommen, warnt er

taz: Herr Schran, was haben Sie gedacht, als Sie die Bilder aus den französchischen Banlieus gesehen haben?

Peter Schran: Ich habe mir erst einmal verwundert die Augen gerieben. Man kennt das ja seit Jahren, dass in Frankreich diskutiert wird, was in den Banlieus los ist. Aber was da jetzt passiert ist, hat mich auch überrascht.

Glauben Sie, dass solche Ausschreitungen auch den nord–rhein-westfälischen Städten bevorstehen?

Die Situation hat sich hier anders entwickelt, wir haben eine andere Städtebaupolitik als in Frankreich. Es gibt mehr Durchmischung in den Wohnquartieren...

...auch hier wird doch ständig von Ghettos gesprochen.

Ja, aber in Köln oder im Ruhrgebiet sind das keine riesigen Gebiete am Rande der Stadt. An jedes dieser Ghettos grenzt auch wieder eine bürgerliche Gegend an. Anders als in Frankreich oder in Großstädten der USA haben junge Migranten hier zumindest noch die Perspektive, dass sie ein anderes Leben führen könnten.

In dieser Woche hat es aber auch in Bremen und Berlin gebrannt. In den Medien wurde von Trittbrettfahrern gesprochen. Gibt es also keinen Leidensdruck, nur Sensationsheischerei in Deutschland?

Es gibt einen Leidensdruck und der steht nicht im Widerspruch zu Trittbrettfahrerei. Die Perspektivlosigkeit in den armen Vierteln in Deutschland ist riesig, und sie wird größer. Ich beobachte die jugendlichen Migranten ja seit zwanzig Jahren. Oft versuchen vor allem die männlichen Jugendlichen „Individualstrategien“ zu entwickeln. Wenn sie von der Gesellschaft nicht gebraucht werden, leidet darunter auch ihr männliches Ego. Sie nehmen Drogen, werden Dealer oder sogar Zuhälter. In Köln kommt die ganze Türsteher-Szene inzwischen aus dem Milieu – auch hier hat sich herumgesprochen, dass das keine Perspektive sein kann.

Zünden die Jungs vielleicht keine Autos an, weil sie Angst vor einer Abschiebung haben?

Das glaube ich nicht. Auch wenn nicht alle jungen Migranten den deutschen Pass haben: Abgeschoben werden sie nur in den seltensten Fällen. Außerdem ist es ja nicht so, dass es in Deutschland noch keine derartigen Vorfälle gab: Nach dem Brandanschlag1993 in Solingen haben Jugendliche protestiert und geplündert. Wenn man hier, wie es der französische Innenminister gemacht hat, die jungen Migranten kollektiv provozieren würde, könnte das durchaus zu flächendeckenden Ausschreitungen führen.

Wie kann man verhindern, dass hier bald die Autos in Flammen aufgehen?

Man muss die Jugendlichen ernst nehmen. In der Schule müssen ihre Defizite viel früher angegangen werden. Bisher ist als Reaktion nicht mehr passiert als eine aufgeregte Berichterstattung und Lippenbekenntnisse von den Politikern. Das reicht nicht. NATALIE WIESMANN

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen