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First LifeIn der Welt der Wassersäcke

Wem das virtuelle Second Life gefällt, wird sich bei First Life die Augen reiben! Hier tummeln sich sechs Milliarden "Menschen". Auch in dieser Parallelwelt geht es um Sex und Geld.

Ausflug in die Welt der Wassersäcke

Wer "Second Life" für eine tolle virtuelle Simulation hält, wird sich bei "First Life" die Augen reiben! Denn dort tummeln sich, grob geschätzt, schon über sechs Milliarden "Menschen" - dabei geht es auch in dieser materiellen Parallelwelt nur um Sex und Geld

VON MARTIN REICHERT

Im "First Life" heißen die Avatars Menschen, es sind wandelnde Wassersäcke, die sich mit Hilfe eines Pascalschen Schwungrades fast ununterbrochen bewegen und nur "nachts", wenn das Licht ausgeht, umfallen. Dann müssen sie schlafen. Nur eine von vielen Widrigkeiten des "First Life", einer für Außenstehende zunächst schwer durchschaubaren, manchmal sogar äußerst feindseligen Welt, die sich dennoch einer schier unglaublichen Beliebtheit erfreut.

Ausgestattet mit einem blauen Mantel, Jeans und Adidas-Turnschuhen geht es los - für den ersten Eindruck muss die Stadt Berlin ausreichen, eine 3,6-Millionen-Einwohner-Metropole des "First Life". Die Fortbewegung ist schon hier kompliziert genug; um in die verschiedenen Bereiche zu kommen, die ja im Großen und Ganzen nur einen sehr kleinen Teilausschnitt darstellen, bewegt man sich mit Zügen in unterirdischen Röhren. Versuchte man, die ganze Welt des "First Life" zu erkunden, müsste man beispielsweise "Billigflieger" in Anspruch nehmen, eine Bezeichnung, die insofern irreführend ist, als sie doch einiges kosten. Ein Flug nach Paris etwa wird für 29 "Euro" angeboten, grob umgerechnet wären das 5.400 Linden-Dollar. Umsonst ist hier eigentlich so gut wie gar nichts zu haben, außer der für Menschen lebensnotwendigen Luft zum Atmen - das "Klima" ist hier sowieso eine ziemlich wichtige Angelegenheit. Der Springer Verlag hat im "First Life" eine eigene Zeitung, die an jeder Ecke angeboten wird, und wenn die Titelseiten recht haben, steht das "First Life" vor seinem baldigen Ende.

Im Moment jedoch laufen hier noch ziemlich viele Menschen rum - außer einem gewissen Herrn Baudrillard, der laut Zeitung gerade gestorben ist. Theoretisch kann man mit ihnen über Sprechblasen kommunizieren. Als sich ein Mensch mit American-Apparel-Kleidung und Brit-Pop-Frisur nähert, erfolgt der erste Versuch: "Und, was machst du hier so?" Der Mensch geht einfach weiter. Nächster Versuch, gleicher Text. Ein männlicher Mensch mit Hut antwortet: "Was geht Sie das denn an?", und läuft weiter. Erstaunlich, wie schlecht dieser unfreundliche Mensch aussieht: Falten, eine rote Nase, grauer Schnurrbart. Ein Grafikproblem? Sehr merkwürdig, denn ansonsten ist die Grafik hier am Potsdamer Platz erstaunlich hochauflösend. Die Gebäude wirken fast echt.

Es gibt hier Niederlassungen und Werbetafeln von Firmen, die einem aus dem Second Life bekannt vorkommen, etwa Sony und Toyota. Auch die Menschen sehen zum Teil aus wie Avatars. Braungebrannte und breitschultrige Männer und großbusige, braungebrannte Frauen mit langen Beinen - ist aber eher die Minderheit, und wenn man sie anspricht, ob sie vielleicht Lust auf Ficken hätten, kann das ziemlich schmerzhafte Folgen haben, also seien Sie auf der Hut. Als Mensch ist man "verletzlich", so kann das Wasser zum Beispiel aus dem Körper rinnen, und dann ist man tot, "game over". Wenn einen nicht vorher ein lärmendes Auto mit Blaulicht ins Krankenhaus fährt. Die Dinger gibt es hier überall, und sie machen einen irrwitzigen Krach. Eine der vielen Details, die das "First Life" zu einem prickelnden Erlebnis, ja: einem wahrhaftigen Abenteuer machen.

Nach einem festen Schlag ins Gesicht ist man benommen, hinzu kommt, dass das "Klima" belastend ist: Wasser ist überall, es tropft sogar vom Himmel. Also ab in eine der unterirdischen Röhren. Hier sind noch mehr Menschen. Sie sind unterwegs, um Euros zu verdienen. Viele arbeiten in Büros, andere stellen eigene Produkte her und versuchen, sie zu verkaufen. Nicht gerade wenige hätten gerne Arbeit und finden keine, sie bekommen ihre Euros vom "Staat". Wieder ein Thema für sich; die politische Struktur im "First Life" ist so komplex, dass einem schwindelig werden könnte - wenigstens das Blatt des Springer Verlags bietet einen holzschnittartigen Zugang dazu. Versteht man auch, wenn man überhaupt keine Ahnung hat - und betrachtet man die Menschen in den unterirdischen Röhren und was sie so lesen, scheint es vielen so zu gehen.

Auf Nachfrage erklärt ein weiblicher Mensch mit Brille und rotem Anorak (wo kann man nur diese "gütigen" Augen kaufen?), dass im "First Life" statt der Lindenlife-Verhaltensregeln im Wesentlichen die sogenannten Zehn Gebote gelten. Endlich mal jemand, der kommunizieren möchte. Man erfährt, dass für dieses ganze Paralleluniversum "Gott" verantwortlich sei, das Äquivalent zu Lindenlife-Boss Philipp Rosedale, der im Vergleich, man muss es zugeben, ziemlich kleine Brötchen backt. Die hochauflösende Grafik! Das "Klima"! Das ist wirklich intelligentes Design, eine richtige iWorld. Dennoch ist auch hier Misstrauen angebracht.

Fragt man die Frau mit dem roten Anorak, wer sie denn im richtigen Leben sei und was sie dort tue, gibt sie einfach keine Antwort. Stattdessen tippt sie sich viermal ins Gesicht und verlässt am nächsten Halt der unterirdischen Bahn den Waggon. Die Menschen nehmen das Spiel hier ein bisschen zu ernst, sie glauben tatsächlich, dass sie sind, wer sie sind. Sie wollen keinesfalls offenlegen, dass sie nur Masken spazieren tragen, versuchen, jemanden darzustellen, der sie gerne wären. Das ist einigermaßen verrückt. Aber wenigstens hat sie nicht zugeschlagen.

Die Bahn hält im Stadtteil Prenzlauer Berg. Die Fassadenanimationen wirken hier etwas befremdlich, alt, aber auch fast echt. Das Tolle ist, dass man sich gleich wie zu Hause fühlt. Die Menschen sehen vertraut aus, jung und alle mit den gleichen hippen Klamotten, zum Teil kennt man sie sogar aus dem "Second Life"! In einem Café, wo man für ungefähr 700 Linden-Dollar einen von 1.200 verschiedenen Sorten Kaffee auswählen kann, sitzen sie an kleinen, weißen Rechnern - und siehe da: "ZottelLisa", ein multisexuelles Monstrum mit Fell, das sich im "SL" immer bei Sexpartys vergnügt, hängt auch hier rum. Sieht total brav aus: Ponyfrisur, rosa Strickjäckchen und Jeans. "Was machst DU denn hier???"

Sie tut so, als wüsste sie von nichts, klappt schnell ihren Rechner zu und geht. Mit hochrotem Kopf. Was will sie denn damit sagen? Sie hätte ja auch einfach mal einen Text absondern können. Als ob es hier, im "First Life", nicht auch nur um Sex ginge! Und wie! Jeder, wirklich jeder schiebt hier einen Bugaboo-Kinderwagen vor sich her, darin winzige Menschen, die total krasse, unverständliche Soundfiles absondern. Auch wenn man hier nirgends riesige Pixelpenisse sieht: Der Storch wird die ja wohl kaum gebracht haben. Oder kann man die Winzlinge hier irgendwo kaufen? Auf Nachfrage bei einem Menschen mit Umhängetasche, Bart und Baseballmütze kommt nur der Satz: "Manche Leute müssen echt mal zum Arzt." Was will man mit dieser Information anfangen? Ob man ihn fragen soll, ob er ficken will? Aber das Gesicht tut immer noch von vorhin weh.

Langsam wird das "First Life" ziemlich anstrengend. Und man fragt sich auch immer mehr, was das hier eigentlich soll. Die Menschen sehen größtenteils ziemlich scheiße aus und wollen weder mit einem reden noch mit einem schlafen. Man weiß nicht, wer sie wirklich sind und was sie wollen. Sie haben nichts Besseres zu tun, als Euros nachzujagen, und stehen nicht mal offen dazu, dass sie es nur auf Sex abgesehen haben.

Die Fortbewegung ist unglaublich aufwendig, das "Klima" macht einen total fertig - am Ende bringt dieser Schnickschnack das ganze System womöglich zum Absturz. Mal ist es warm, mal ist es kalt, und es regnet. Wie man mit diesem Zusatzgimmick namens "Hunger" klarkommen soll, wenn sämtliche Euros alle sind, kann einem niemand genau erklären. Und das Beschissenste überhaupt am "First Life" ist, dass man nicht ohne weiteres damit aufhören kann. Man kann sich nicht einfach wieder ausloggen! "Schicksal", höhnt ein ältlicher, hässlicher Mensch. Man beginnt zu erahnen, dass es vorerst nur eine Rettung gibt: Schlaf.

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