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Lernen und trotzdem Spaß haben

Frankreich gibt seine Kleinkinder in die Hände studierter Pädagogen. In den Écoles maternelles gehören das Abc und Sprachentwicklung zum Alltag. Hierzulande gibt es ähnliche Projekte bisher nur als ambitionierte Modellversuche

VON CHRISTIAN FÜLLER

Theo zählt. Eins, zwei, drei ... Der kleine Kerl stellt sich vor die Kinder. Tippt ihnen kurz auf den Kopf. Vier, fünf, sechs, sieben ... Anna lehnt sich weit zurück, damit Theo ihre Haare nicht berühren kann. Acht, neun, zehn ... Theo zählt unverdrossen weiter. Bis er bei 23 angekommen ist. 23 Kinder. So viele sind es, die im Viereck vor einer grünen Wandtafel das Zählen üben.

Wir sind in keiner Schule. Auch ist es nicht eine der fantastischen Kindereinrichtungen, wie sie Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) seit Wochen den Deutschen verspricht. Theo und seine 22 kleinen Kolleginnen und Kollegen sind drei, manche vier Jahre alt. Sie besuchen den Kindergarten im französischen Lyon. Die Kinder bekommen in der École maternelle Joseph Cornier nicht nur eine ihrer täglichen Lektionen - sie erteilen auch eine. Eine Lehrstunde, wie gut man in der Kita schon lernen kann.

Ewan versucht, seinen Namen an die Tafel zu schreiben. Es hakt ein bisschen. Kein Problem, der Knirps kann das Alphabet zu Rate ziehen, das über der Tafel angebracht ist. Darunter die Wochentage - in Französisch, Italienisch, Englisch. Buchstaben und erste Wörter sind selbstverständlich im französischen Kindergarten.

Eine Gruppe deutscher und französischer Journalisten weilt auf Einladung der Stiftung Genshagen, des deutsch-französischen Jugendwerks und des Internationalen Pädagogikzentrums CIEP in Paris, um zu entdecken: Auch Zwei- und Dreijährige kann man in öffentliche Einrichtungen geben, ohne dass sie dauernd ihre Rabenmütter beweinen müssten. Ja, man kann Kinder dabei sogar mit dem Abc vertraut machen, angeleitet von Lehrerinnen. Das macht Spaß.

"Wir sind eine Schule, kein Garten", sagt Theos Lehrerin Janine Traas. "Das Wichtigste in der École maternelle ist, die Sprache zu lernen und sich zu einem Schüler zu entwickeln." Traas, 47, hat lange in der Grundschule gearbeitet. Nun ist sie im Kindergarten . Wenn sich Anna oder Ludovic zurückbeugen, weil sie Theos Hand auf ihrem Kopf nicht mögen, dann drückt Traas die Kleinen sanft nach vorne. Sie geht sehr liebevoll mit den Kindern um. Aber sie betrachtet es als ihren Job, Neugier zu wecken. "Ich versuche die Kinder so weit zu bringen, dass sie sich Fragen stellen", sagt Traas.

650 Kilometer nordöstlich, in Frankfurt am Main, sieht das nicht anders aus. Die Erzieherin der Frankfurter Maria-Hilf-Kita hat sieben Kinder um sich. Auf der Decke vor ihnen liegen verschiedene Plastikformen. Dreiecke, Vierecke, Kreise, jeweils in einer anderen Farbe. "Wie heißt das Ding, wenn es drei Ecken hat?", fragt Dorothee Voigt. "Viereck", antwortet der fünfjährige Iwan trotzig. Auch hier wird gezählt und ermuntert, ganze Sätze zu sprechen. Allerdings ist das, was in Frankreich die Regel ist, in Deutschland die Ausnahme.

"Das ist ein Modellprojekt", klärt Iris Tenschert von der gemeinnützigen Hertie-Stiftung auf. In zwölf Kindergärten unterstützt die Stiftung durch Fortbildungen den Spracherwerb in der Kita mit dem Programm "Frühstart". Die Kindertageseinrichtung Maria Hilf liegt - wie fünf andere Frühstart-Kitas - im städtischen Brennpunkt Gallusviertel. Ein katholischer Kindergarten, aber die Muslime sind hier die Mehrheit. Was geschieht, wenn die drei Jahre Laufzeit beendet sind? Das Projekt wird verlängert, zunächst um ein Jahr. Und man versucht, es über die zwölf beteiligten Kitas hinaus auszuweiten. Noch ist offen, ob und wie das gelingt. Iwan und seine Freunde jedenfalls können weiter strukturiertes Sprachlernen genießen - zweimal in der Woche, je 45 Minuten.

"Es war nicht ganz einfach anfangs", verrät Kitaleiterin Silvia Kreis, "die 45 Minuten wirklich durchzuhalten." Dafür waren die Kinder, die meist aus schwierigen sozialen Verhältnissen kommen, oft zu unruhig. Und Voigts Kolleginnen und Kollegen mussten sich erst weiterbilden. Alles engagierte Erzieherinnen, keine Frage. Allerdings gibt es keine einzige Lehrerin bei Maria Hilf.

"Die Franzosen haben ein radikal anderes Konzept von Kindergarten und Schule als die Deutschen", sagt der Lyoner Professor Régis Bernard. Das stimmt. 1881, als die Deutschen noch ein zersplittertes Schulwesen hatten, verwirklichte Jules Ferry die Postulate der Französischen Revolution auch in den Lehranstalten. Bildung wurde obligatorisch, gratis, laizistisch - und streng. Die gemeinsame frühe Bildung sollte dafür sorgen, erläutert Bernard, "dass alle zu einem Volk gehören und gleich sind".

Was der Leiter des Lyoner Institut Universitaires de Formation des Maîtres da sagt, ist ein wenig pathetisch. Aber was seine Einrichtung betrifft, liegt Régis Bernard damit ganz gut. An den 1989 eingeführten pädagogischen Hochschulen werden alle französischen Lehrer ausgebildet. Die der Gymnasien genauso wie die der Grundschulen - und die Lehrer der Kindergärten. Frankreich gibt seine Zwei- bis Sechsjährigen in die Hände ausgebildeter Pädagogen. Die Kommunen stellen zusätzlich territoriale Bedienstete ein, die die Lehrer unterstützen.

Bernard diskutiert mit deutschen Kolleginnen aus der Erzieherinnenbildung, wie die Qualifikationen der Kleinkindbetreuer diesseits und jenseits des Rheins einzuschätzen sind. Rahel Dreyer von der Fachhochschule Koblenz erläutert die neuen Ansätze, auch deutsche Erzieherinnen an die Hochschulen zu schicken. Nur vereinzelt gibt es das, in Berlin, Bremen und Koblenz zum Beispiel. Auch Familienministerin von der Leyen müht sich, die Ausbildung zu verbessern, muss aber stets aufpassen, dass sie nicht mit den Kultusministern der 16 Bundesländer in Streit gerät. Ein mühsames Geschäft. "60 Jahre dürfte es dauern", beschreibt Rahel Dreyer die Kapazität der Modellversuche, "bis alle deutschen Erzieherinnen eine Ausbildung mit Hochschulniveau haben." Die Expertenrunde kichert. Auch der strenge Institutsleiter Bernard findet das lustig. Ausgerechnet sein Land, das er gerade kritisch beleuchtet hat, soll mehr als ein halbes Jahrhundert Vorsprung vor dem Nachbarn haben?

Es ist in der Tat frappierend. In Deutschland erfand Friedrich Fröbel schon in den 1830er-Jahren den Kindergarten. Wenige Jahre später - nach der Revolution von 1848 tagten gerade Abgeordnete, um eine demokratische Verfassung für das Land zu schreiben - erreichten Eingaben die Frankfurter Paulskirche: Kindergärten sollten anerkannt und echte Bildungseinrichtungen werden. Mit eigenen Lehrern, am besten Frauen - die damals noch gar nicht lange genug auf die Schule durften, um als Pädagoginnen arbeiten zu können. Die Forderung wurde nie erfüllt. Preußen verbot Fröbels Kindergarten kurzerhand.

"Man kann nicht sagen, dass jemand, der an einer Hochschule ausgebildet wurde, der bessere Erzieher ist", sagt Irène Kaschefi-Haude dazu. Die Ausbilderin am Erzbischöflichen Berufskolleg Köln muss widersprechen, hat sie doch gerade ausführlich dargelegt, wie sie die Erzieherausbildung an ihrer Fachschule professionalisieren will. Gut 160 Jahre nachdem Fröbel es forderte. Das Wort Sprache fällt bei Kaschefi-Haude nur ein Mal. "Natürlich spielt der Spracherwerb eine Rolle", verteidigt sie sich, "das findet innerhalb der Lernfelder der Ausbildung statt."

Die französische Kollegin räuspert sich. "Die École maternelle ist eine Schule des Mündlichen", versucht Catherine Gervais einen Kompromiss zu formulieren. Die Leiterin der École maternelle Joseph Cornier lobt, wie wichtig die territoriale Assistentin ist. Sie soll sich um die kleinen Wehwehchen der Kinder kümmern, die Windeln wechseln und in den Pausen aufpassen -also alles das, wofür auch eine deutsche Erzieherin da ist. "Aber die volle pädagogische Autorität liegt bei der Lehrerin", sagt Gervais über ihre Kollegin Janine Traas. Sie ist kinderpsychologisch ausgebildet, sie weiß, wie man dem Kleinkind beim Entwickeln der Sprache hilft, wie man den Übergang vom Zeichnen zum Schreiben fördert.

Während Traas mit den Gästen spricht, geht ihre Assistentin, die zuvor im Hintergrund Brötchen geschmiert hat, mit den Kindern hinaus. Aufs Klo, alle Kinder zusammen. Traas lächelt: "Aber wer nicht muss, der muss auch nicht."

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