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FestivalÜber den Dächern von Halle

Cristina Nord
Kommentar von Cristina Nord

Die Werkleitz-Biennale widmete sich unter dem Titel "Die Fabrik verlässt ihre Arbeiter" dem Verhältnis von Kinofilmen und Arbeiterkultur.

Die Fabrik geht. Bild: dpa

D er 13. Juli 1930 ist kein warmer Tag. Die Menschen auf den Berliner Straßen tragen Mäntel, Hüte und Schals. Nur ein paar Sportler trauen sich mit nacktem Oberkörper auf die Straße. Alle marschieren "seit den frühen Morgenstunden", erklärt die Stimme aus dem Off, vorbei an Schaulustigen und Sympathisanten, durch die Arbeiterviertel Berlins. Ihr Ziel ist der Volkspark Rehberge, wo die Arbeiterorganisationen der ganzen Stadt ein großes Fest ausrichten. Die Polizei ist ihnen dicht auf den Fersen.

"100.000 unter roten Fahnen" heißt der 17-minütige Stummfilm von Phil Jutzi, der das Defilee eher feiert denn protokolliert. "Innerhalb der Filme der Arbeiterbewegung", erläutert der Hamburger Filmpublizist Thomas Tode, sei Jutzis Film "einzigartig", weil er zeige, wie stolz sich die Menschen zu ihrer Klasse verhalten. Jutzi dokumentiere die Existenz einer spezifischen Arbeiterkultur. Ein langes Leben war dieser selbstbewussten Kultur in Deutschland nicht beschieden: Der Nationalsozialismus zerstörte sie, indem er KPD, SPD und die Gewerkschaften verbot und an ihre Stelle die "Deutsche Arbeitsfront" setzte. In der Bundesrepublik gingen die Arbeiter in der Mittelschicht auf, die DDR machte sie zur herrschenden Klasse. Heute ist von industrieller Arbeit nicht mehr viel übrig, und der Arbeiter kämpft auf verlorenem Posten.

Mit der Frage, wie der Film diese Entwicklungen aufgreift, befasste sich am Wochenende in Halle das Symposium "Die Fabrik verlässt ihre Arbeiter", zu dem Todes Vortrag über die linke Filmkultur der Weimarer Republik den Auftakt bildete. Veranstaltet von der Werkleitz-Biennale, fand das Symposium an einem historisch bedeutsamen Ort statt: im Hallenser Volkspark, einer vor 100 Jahren eingeweihten Versammlungs-, Vergnügungs- und Bildungsstätte fürs Proletariat. Das Gebäude steht mithin emblematisch für das, was Tode "Arbeiterkultur" nennt. Es war zudem Schauplatz markanter politischer Auseinandersetzungen - hier wurde bei einem Wahlkampfauftritt Ernst Thälmanns im März 1925 Fritz Weineck erschossen.

Von diesem Ereignis nahm eine kommunistische Legende ihren Ausgang: Weineck, 27 Jahre alt, Hornist im Roten Frontkämpferbund, habe Thälmann gedeckt und dafür mit dem Leben bezahlt; ihm zu Ehren wurde noch im Jahr seines Todes das Lied "Der kleine Trompeter" komponiert. "Von all unsern Kameraden / war keiner so lieb und so gut / wie unser kleiner Trompeter, / ein lustiges Rotgardistenblut". Konrad Petzold drehte 1964 für die DEFA den Film "Das Lied vom Trompeter", der sich Weinecks Vita zwar mit propagandistischem Interesse näherte, wie der Berliner Filmpublizist Ralf Schenk erläuterte. Doch die zahlreichen Actionszenen - Schießereien, Prügeleien und eine spektakuläre Flucht über die Dächer von Halle - schaffen Raum für "reinen Kintopp", so dass die ideologische Aufladung mindestens szenenweise in den Hintergrund tritt.

Heute ist Halle - auch das passt zum Sujet des Symposiums - shrinking city. Noch leben hier über 230.000 Menschen. Doch bis 2020 wird ein Bevölkerungsrückgang auf circa 195.000 Bewohner prognostiziert. Es nimmt vor diesem Hintergrund nicht wunder, wenn das Verschwinden sich leitmotivisch durch die Filme und Vorträge zog. Vom Verschwinden des Kraftwerks Zschornewitz etwa handelt der Filmessay "Technik des Glücks" (2003), die Abschlussarbeit der beiden Regisseure Stefan Kolbe und Chris Wright an der Potsdamer Filmhochschule. Zschornewitz ist ein kleiner Ort in Sachsen-Anhalt, nicht weit von Bitterfeld entfernt. Er existierte in Funktion auf ein riesiges Kohlekraftwerk, dessen Betrieb 1992 eingestellt wurde. "Technik des Glücks" ist alles andere als die erwartbare Sozialreportage. Die beiden Filmemacher halten sich stattdessen an das Film- und Videomaterial, das die Kraftwerker in ihrem Amateurfilmclub drehten. So sieht man Bilder von Weihnachtsfeiern, vom FKK-Urlaub an der Ostsee, von der Kleingartenkolonie "Zukunft", von der Asche in den Straßen und immer wieder von der Sprengung der Schornsteine. Insgesamt waren es 16, es brauchte zwei Jahre, bis alle gefallen waren. Heute erstreckt sich eine grüne Wiese, wo das Kraftwerk stand.

In Ulrich Weiß' Spielfilm "Miraculi" (1991) ist das Verschwinden auf vielen Ebenen zu spüren. Zunächst einmal wird anhand von Weiß' Fall, wie der Berliner Autor und Kinobetreiber Claus Löser erläuterte, das "Verschwinden eines Talents" schmerzlich spürbar. Weiß, Jahrgang 1942, drehte für die DEFA zwei Kinder- und zwei Spielfilme. Nach "Olle Henry" (1983) erhielt er keine Regieaufträge mehr, die Stasi überwachte ihn, er hatte, so Löser, "faktisch Berufsverbot". Erst nach 1989 konnte er wieder als Regisseur arbeiten - in jener "Interimszeit", in der es die DDR nicht mehr, die DEFA gerade noch gab. "Miraculi" ist so unübersichtlich wie diese Zeit. Der Film erzählt von einem jungen Mann, der nach einem Ladendiebstahl seines Betriebes verwiesen wird und sich fortan als Fahrkartenkontrolleur herumschlägt. In einer von vielen absurden Szenen stellt ihn der Vater zur Rede: "Was ist dein Judaslohn?" Praktikant avant la lettre, stammelt der Sohn: "Es ist ehrenamtlich." Am Ende lässt Weiß einen riesigen See versickern. Die Figuren der letzten Szenen - eine Festgesellschaft - staksen ziellos durch den braunen Schlamm, durch eine Landschaft, wie stillgelegter Tagebau sie formt. Auch wenn Weiß die Idee vom verschwundenen See bereits 1978 in einem Drehbuchentwurf notierte, lassen sich Parallelen zur versunkenen DDR ziehen.

Nach "Miraculi" hat Weiß nicht mehr gedreht, der Film wurde zwar 1992 außer Konkurrenz auf der Berlinale gezeigt und fand auch einen kleinen Verleih. Die Reaktion vor allem der westdeutschen Filmkritiker war jedoch vernichtend. Nicht mehr als 10.000 Besucher, schätzt Löser, werden "Miraculi" gesehen haben. Ein Video existiert nicht, eine DVD noch weniger. "Miraculi" ist ein verschwundener Film.

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Cristina Nord
Kulturredakteurin

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