Montagsinterview Museumsführerin Christina Wagner: "Kunst ist meine Droge"
Christina Wagner erklärt schöne Franzosen, altägyptische Büsten und Seerosen. Tag für Tag, Gruppe für Gruppe. Die Museumsführerin legt bei der Kunstvermittlung ihr Herz auf den Tisch, wer nicht zugreift, ist selber schuld.
Erst kamen die Bilder des Museum of Modern Art aus New York. Nun hängen "Die schönsten Franzosen" in der Neuen Nationalgalerie. Zur Halbzeit der bis Oktober laufenden Impressionisten-Schau wurde gerade der 250.000. Besucher begrüßt. Der Andrang ist so groß, dass schon jetzt sämtliche Führungen ausgebucht sind. Auch die von Christina Wagner. Die 56-Jährige hat über 100 Gruppen an Monets, Gauguins und Courbets vorbeigeschleust. Schüler, Rentner, Banker, Touristen. Auch in der Alten Nationalgalerie und im Pergamonmuseum macht Wagner, die studierte Philosophin, Führungen - mit unverkennbar sächsischem Akzent. Zuschauer provoziert sie gern mal mit Zitaten wie dem von Proudhon: "Eigentum ist Diebstahl"
taz: Frau Wagner, Sie haben schon über 100 Gruppen durch die Ausstellung "Die schönsten Franzosen" geführt. Wie fühlen Sie sich?
Christina Wagner: Saugut. Es wird jedes Mal besser. Ich bin mit Leidenschaft dabei.
Welche Gruppen führen Sie am liebsten?
Kinder, Senioren, Reisegruppen, Politiker, Geschäftsleute - mir sind alle gleich lieb. Wobei es mit Schülern auch sehr problematisch sein kann. Neulich hatte ich eine 9. Klasse, das war heavy.
Was war das Problem?
Die Lehrerin sagte mir hinterher, dass die Klasse noch nie in einem Museum war. Die Lust der Schüler beschränkte sich auf ein absolutes Minimum. Ich musste die Klasse erst mal auftauen.
Wie machen Sie das?
Langjährige Erfahrung. Man muss sich auf ihre Sprache einlassen, herausfinden: Was kann ich denen zumuten, was lasse ich besser gleich sein? Kinder und Jugendliche sind es gewohnt, bewegte Bilder zu sehen. Ich habe die Schüler gefragt, was sie mögen. Viele von denen waren schwarz gekleidet und gepierct. Es stellte sich heraus, dass ihnen das Bild "Das Mahl des Löwen" von Henri Rousseau am besten gefiel.
Ein Werk der Naiven Malerei. Es zeigt einen Löwen, der in einem Dschungel seine Beute verschlingt.
Genau. Im Gegensatz zu Gauguin, der in der Südsee gelebt hat, hat Rousseau diese exotischen Bildwelten aus seiner Fantasie heraus erschaffen. Bei einem anderen Bild - zwei Prostituierte auf einem Sofa von Toulouse-Lautrec - haben die Jugendlichen nur gelacht. Da ging gar nichts. Solche Reaktionen sind aber keine Frage des Alters. Ich habe auch schon erlebt, dass alte Leute bei dem Bild zu lachen angefangen haben. Als ich nachgefragt, warum, flüsterte eine Frau: "Das sind ja Nutten."
Warum wählen Sie gerade dieses Bild aus?
Ich zeige Toulouse-Lautrec gern, weil er Grenzen auflöst, Grenzen zwischen Malerei und Zeichnung. Dadurch bringt er diese Verletzlichkeit der dargestellten Personen so gut rüber.
Das heißt, diese alten Bilder provozieren heutzutage immer noch?
Durchaus. Ich versuche, bei den Führungen zu erklären, wie sehr diese Maler damals angefeindet wurden. Aber ich stelle immer wieder fest, dass viele Besucher genau vor den Bildern stehen bleiben, gegen die die Impressionisten damals rebelliert haben. Diese akademischen Machwerke, die in der Ausstellung ja auch hängen, werden immer noch angebetet. Der Mensch hat diesen eigenartigen Hang zu Naturalismen, er lässt sich nicht so leicht auf künstlerische Umsetzungen ein.
Sie führen nicht nur durch Ausstellungen in der Neuen Nationalgalerie.
Soweit es geht, beteilige ich mich an allen Sonderaustellungen. Auch bei der MoMA habe ich geführt. Das ist jedes Mal eine neue Herausforderung. Außerdem führe ich in der Alten Nationalgalerie und bei den Staatlichen Museen. Dort mache ich außer Ägypten und Ethnologie eigentlich alles.
Sie wurden in der DDR geboren. Haben Sie vor der Wende auch schon Museumsführungen gemacht?
Ja, ich habe 1987 bei der Sonderausstellung zur 750-Jahr-Feier Berlins mit den Kunstführungen angefangen. Das war Kunst von 1648 bis zur Moderne im Alten Museum. Es war ein schöner Einstieg, da war alles dabei: Malerei, Plastik, Kunsthandwerk. Im selben Jahr eröffnete auch das Schinkel-Museum in der Friedrichswerderschen Kirche. Da habe ich geführt, dann im Bode-Museum, dann auch in der Alten Nationalgalerie, und schließlich im Pergamonmuseum.
Waren Sie zu DDR-Zeiten fest angestellt?
Nein, ich war immer freiberuflich tätig. Das war damals gut und ist auch heute gut.
Warum?
Man ist sein eigener Herr. Man muss keinen Standard erfüllen. Am Anfang gehen wir mit einem Kurator durch die Ausstellung. Danach entscheidet jeder selbst, was er rüberbringen möchte.
Was wollen Sie denn rüberbringen?
Ich will, dass sich Blicke öffnen. Dass die Leute Zusammenhänge erkennen. Nicht bloß ein Bild angucken und sich Getratsche über den Künstler anhören. Das 19. Jahrhundert war ein revolutionäres Jahrhundert, mit vielen technologischen Entwicklungen und Umbrüchen im sozialen Gefüge. Das sollen die Zuschauer begreifen.
Überfordern Sie die Leute nicht manchmal?
Im Wesentlichen kommen Besucher, die sich auskennen. Letztens hatte ich eine Gruppe Banker, alle in schwarzen und grauen Anzügen. Leute, die mit ganz viel Geld hantieren. Aber es war richtig schön, die mitzureißen. Am Ende habe ich mit einem über Van Gogh und Jim Morrison diskutiert.
Und was machen Sie mit Kunstbanausen?
Mit Leuten, die so eine Ausstellung nur eventmäßig abhaken wollen, kann ich ziemlich hart sein. Es gibt Reiseveranstalter, die ihre Kunden abzocken, indem sie von ihnen viel mehr Geld verlangen, als der Eintritt eigentlich kostet. Solche Gruppen kommen oft mit dem Anspruch: "Die Franzosen-Ausstellung müssen wir auch noch mitnehmen." Wenn ich das mitkriege, kenne ich meistens kein Pardon: Da müsst ihr jetzt durch, denke ich mir.
Sie provozieren gerne?
Insbesondere, wenn ich merke, dass ich es mit solchen Bildungsbürgern zu tun habe. Dann betone ich schon mal, dass Courbet ein Freund von Proudhon war. Jenem utopischen Sozialisten, von dem der Satz stammt "Jegliches Eigentum ist Diebstahl."
Haben Sie eigentlich Kunst studiert?
Nein. Geschichte und Philosophie, zuerst an der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Nach zwei Jahren hat man mir wegen "negativen Individualismus" nahe gelegt, das Studium abzubrechen. 1980 bin ich dann nach Berlin. An der Humboldt-Universität habe ich das Philosophiestudium mit Ästhetik als Bestandteil fortgesetzt. Außerdem habe ich Vorlesungen in Kunstgeschichte belegt.
Negativer Individualismus - was soll das heißen?
Ich bin nicht groß in Erscheinung getreten. Ich war nur nicht hundertprozentig auf Linie. Vielleicht lag es daran, dass ich mit den Kommilitonen Sartre-Texte und Ähnliches ausgetauscht habe. Und mein Mann war freiberuflicher Künstler. Es kamen viele Leute zu uns, unsere Wohnung war verwanzt.
Sie haben im Alter von 16 Ihr erstes Kind bekommen, das war selbst für DDR-Verhältnisse ziemlich früh, oder?
Ja. Ich wollte das absolut. Das war eine große Liebe, auch wenn es am Ende alles verändert hat.
Sind Sie mit dem Mann heute noch zusammen?
Ja, durch viele Wirrnisse, ja.
Wie fanden Sie die Wende?
Sagen wir mal: Ich war kein Freund der Wende.
Und heute?
Es ist genau das eingetreten, was ich erwartet habe. Eigentlich ist es noch schlimmer gekommen. Dieser Ellbogenkapitalismus. Ich war nie DDR-mäßig drauf, das System fand ich gruselig. Aber der Kommunismus ist für mich eine tolle Utopie. Heute rebellieren die jungen Leute nicht mehr. Alles geht ums Geld, das sind richtige Bürger.
Zurück zu den "Franzosen". Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie hören, dass ein van Gogh für zig Millionen den Besitzer wechselt?
Das finde ich pervers.
Lässt die Faszination nicht nach, wenn man zum hundertsten Mal dasselbe Bild erklären muss?
Nein. Die Bilder werden immer vertrauter. Das geht manchmal so weit, dass man komplett in der Kunst lebt. Das bohrt in einem. Ich fange noch mal an zu lesen, erkenne neue Zusammenhänge. Bei den Führungen muss ich mich zum Teil richtig bremsen: Stopp jetzt! Das ist zu viel für die Leute. Bei den "Eisschollen" von Monet hatte ich eine regelrechte Offenbarung.
Bitte erzählen Sie.
Bei schönem Wetter sind die Vorhänge zugezogen, weil keine Sonne an die Bilder darf. Ich hatte das Glück, dass die Vorhänge aufgezogen waren, als ich vor den "Eisschollen" stand. In dem Moment kam die Sonne durch. Das Bild bekam eine viel differenziertere Farbigkeit, ein zusätzliches Leuchten. Das war unglaublich.
Hängen Ihnen die Führungen nicht manchmal zum Hals raus?
Es gibt Tage, da denke ich, heute geht gar nichts. Aber sobald ich bei den Bildern bin, tauche ich in eine andere Welt ein - in meine Welt.
Die Bilder bringen Sie gut drauf?
Absolut. Kunst als Droge, wenn Sie so wollen. Manchmal ist das richtig ein bisschen unheimlich.
Unheimlich?
Ich habe mal in einer Etrusker-Ausstellung geführt, da ging es viel um Gräber und Bestattungskultur. Da bin ich fast weggedriftet. Es besteht die Gefahr, dass man aus dieser Welt nicht mehr rauskommt. Obwohl ich da in meiner Familie gute Bedingungen habe, mein Mann ist Künstler und Kunstlehrer.
Wie kommen Sie abends wieder runter von der Kunst?
Ich trinke ein Glas Wein. Und ich habe einen langen Heimweg mit dem Auto. Ich wohne in Hönow.
In einem Haus mit vielen Bildern?
Ganz vielen. Die meisten Bilder sind von meinem Mann, meinem Sohn und meiner Tochter. Und Plakate. Auf Kunstreproduktionen stehe ich nicht so. Wahrscheinlich, weil ich so viele Originale sehe. Da wirkt eine Reproduktion regelrecht deprimierend.
Welche Kunst mögen Sie am meisten?
Vielleicht bin ich da ein bisschen altmodisch. Für mich ist Action Painting unglaublich wichtig, Kunst, die ganz aus dem Körper kommt. Die Ausbrüche, das Experimentieren, das finde ich toll. Zu Bildern, an denen so herumgebastelt wird, habe ich ein gespaltenes Verhältnis. Das erinnert mich zu sehr an sozialistischen Realismus.
Leben Sie auch so explosionsartig?
Ja. Mein Leben ist schon eher chaotisch als geordnet. Mein Sohn hat einen sehr schönen Text gemacht: "Im Chaos der Tage liegt die Ordnung der Zeit. In den Wirren der Träume die Klarheit." Das ist toll, oder?
In welchem Museum in Berlin führen Sie am liebsten?
Vor allem in der Alten und Neuen Nationalgalerie. Das Pergamonmuseum ist anstrengend. Da ist es heiß, da muss man schreien. Auch weil man da oft Schulklassen hat, die das pflichtgemäß abarbeiten. Da muss man kämpfen, man muss sein Herz auf den Tisch hungriger Leute legen und das Letzte geben. Aber das ist ja auch das Schöne an dem Beruf.
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