Hochbegabte: "Das ist halt die Minu"
Noch nie hat jemand das Abitur so schnell und gut geschafft wie die 14-Jährige Minu Tizabi. Jetzt wird sie in Heidelberg studieren. Ihr Vater kommt mit.
PFORZHEIM taz Am liebsten würde sie alles auf einmal machen. Minu Dietlinde Tizabi, 14 Jahre alt, möchte nicht nur Medizin studieren. Sie würde sich nebenher gerne noch in Molekularer Biologie einschreiben. "Aber bei Medizin darf man ja leider nichts parallel studieren", sagt sie.
1993: Dietlinde Tizabi ist im neunten Monat schwanger. Schon vor der Geburt von Tochter Minu ist Vater Djamshid zuversichtlich, dass das Kind überdurchschnittlich intelligent sein wird. Einen Monat nach Minus Geburt stirbt die Mutter plötzlich. Vater und Tochter ziehen um in das Haus seiner Schwiegermutter nach Pforzheim. 1999: Minu kommt in die Schule. Sie ist nun sechs Jahre alt und besucht gleich die dritte Klasse. Schreiben, lesen und rechnen kann sie da schon, Englisch und Französisch auch. Der Vater kümmert sich ausschließlich um ihre Entwicklung. Zwei Jahre darauf, mit acht Jahren, wechselt Minu in die sechste Klasse des Gymnasiums.2007: Minu legt am Pforzheimer Hebel-Gymnasium ihr Abitur ab - Bestnote 1,0. Sie ist die jüngste Abiturientin, die es in Deutschland je gab. Sie sagt: "Das kann jeder schaffen im Prinzip."
Der Numerus clausus wäre in beiden Fällen nicht das Problem. Seit April hat Minu ihr Abitur in der Tasche. Bestnote 1,0. Sie hat neun Jahre dafür gebraucht. Im deutschen Schulsystem hat man danach in der Regel den Hauptschulabschluss. Doch Minu Tizabi ist nicht Regel, sondern Ausnahme. Noch nie hat jemand in Deutschland das Abitur auch nur annähernd so schnell wie dieses Mädchen geschafft, das vier Klassen übersprungen hat. Seitdem steht bei den Tizabis das Telefon nicht mehr still. Aus der kleinen Meldung in der Lokalzeitung ist eine bundesweite Sensation geworden.
Minu, "betont auf der zweiten Silbe", wie sie sagt, begrüßt an diesem Nachmittag vor dem schmalen Haus ihrer Großmutter in Birkenfeld, einem schmucklosen Vorort von Pforzheim. Seit 14 Jahren lebt sie hier, zusammen mit ihrem Vater. Höflich ist sie, sagt: "Vielen Dank, dass Sie gekommen sind." Obwohl doch der Reporter um einen Besuch bei ihr gebeten hat. Kaum merklicher Händedruck, ein Kindergesicht, noch mit Babyspeck auf den Wangen. Das Lächeln straff, die Kleidung streng und nicht eben das, was Teenager sonst tragen: blauweiß gestreifte Bluse, schwarze Bundfaltenhose, rote Strickjacke. Ihr Vater kommt hinzu, Djamshid Tizabi. "Ich möchte mich im Gespräch aber zurückhalten", sagt er. "Es geht ja um Minus Leistung, nicht um meine." Er habe seine Tochter nur im Rahmen seiner Möglichkeiten gefördert. Und natürlich auch ein bisschen gefordert.
Das Gespräch findet bei der Großmutter statt. Die Wohnung darunter, die Minu mit ihrem Vater bewohnt, wird gerade gestrichen. Überall stehen Kartons kreuz und quer, für den nahenden Umzug nach Heidelberg. "Dort", erklärt Minu, "haben wir uns bei der Zentralen Vergabestelle für Studienplätze beworben." Die erste Pluralform benutzt sie oft, wenn sie von sich und ihren Plänen spricht - automatisch schließt sie den Vater mit ein.
Heidelberg ist nur zweite Wahl. Nachdem die beiden internationale Vergleichslisten durchgesehen hatten, wollte und sollte Minu eigentlich in Cambridge in England studieren. Das hatte sie auch schon ihrem Schulleiter gesagt, der sich dann für sie informiert hat. Zu jung, befand Cambridge.
"Das war schade", sagt der Vater, der sich mit sanfter Stimme nun doch öfter ins Gespräch einbringt. Er ist ein dünner, ruhiger Mann, schwarz gekleidet, den Hosenbund weit hochgezogen, dazu weiße Socken und Hausschuhe. Der gebürtige Iraner kommt aus der Naturwissenschaft, er ist Ingenieur für Elektrotechnik, dem Kern eher zugeneigt als der Hülle. Einmal hat er zu Minu gesagt: Du kannst studieren, was du willst. Auf der ganzen Welt. Ich gehe überall hin mit dir. Das war vor vier Jahren, Minu war zehn.
Sie lächelt zu ihrem Vater hinüber, der ihr gegenüber auf dem Sofa sitzt. Erzählt in kurzen Stakkatosätzen. Wie ihr Tag aussieht zum Beispiel, was sie in der Freizeit macht. Sie fände dieses öffentliche Bild von sich nicht so gut, das von der immer nur lesenden Außenseiterin. "Ich schaue ja auch gerne mal Fernsehen. Nachrichten und Dokumentationen meistens." Aufrecht sitzt sie in ihrem Ohrensessel, die kleinen Hände ineinandergekeilt. Im Haus ist es sehr ruhig. "Oder ich treffe mich auch mal mit Mädchen aus dem außerschulischen Bereich." Die kämen dann meist zu ihr. Nicht direkt nach Hause, aber in die Garage, da haben die Tizabis eine Tischtennisplatte.
Der Vater blickt auf den gefliesten Wohnzimmertisch, dann zu Minu. Leise fragt er sie: "Möchtest du noch erzählen von deinem Buch?" Ach ja, das Buch. "Abi mit 14" lautet der Arbeitstitel. Untertitel: "Vor- und Nachteile". Sie schreibe schon seit eineinhalb Jahren daran. Nur während der Vorbereitungen auf das Abitur habe sie das Projekt ein wenig vernachlässigt. "Musst du auch mal bisschen weitermachen, oder?", sagt der Vater freundlich. Sie lächelt. "Ja, stimmt."
Was hat sie niedergeschrieben darin? Welche Vorteile und auch welche Nachteile? "Das kann ich leider nicht erzählen, sonst kauft ja niemand mehr mein Buch", sagt Minu.
Eine andere Geschichte ist schon geschrieben. Die des Wunderkindes. Sie beginnt früh. "Na ja, das soll mein Vater erzählen", sagt Minu und lächelt ein wenig, "ich kann mich da ja nicht so dran erinnern." Djamshid Tizabi erzählt. Von ihrem zweiten Geburtstag, wie er da für seine Tochter verschiedene Luftballons an die Decke steigen ließ. "Da kam ich auf die Idee, sie zu fragen, ob sie die Farben der Luftballons unterscheiden kann." Halb im Spaß, aber halb auch im Ernst, "weil ich immer versuche - in Gänsefüßchen - etwas Sinnvolles mit Kindern zu machen". Minu unterschied. Zeigte auf die einzelnen Ballons: Der ist rot, der ist dunkelrot, der ist hellrot. Ihr Vater war überrascht. Obwohl er ja schon vor ihrer Geburt dachte, dass sie hochintelligent sein würde. Er sagt das nicht überheblich, sondern sehr sachlich. Schließlich war seine Frau Dietlinde während der Schwangerschaft mit Minu dabei, naturwissenschaftlich zu promovieren. Einen Monat nach der Geburt aber starb sie plötzlich. Vater und Kind zogen von Dortmund, wo er an der Hochschule wissenschaftlicher Mitarbeiter war, in das Haus seiner Schwiegermutter nach Birkenfeld. In der gemeinsamen Wohnung wollte er nicht mehr leben.
Er machte sich als Nachhilfelehrer selbstständig, um von nun an voll für die Erziehung seiner Tochter da sein zu können. "Ist doch klar", sagt er in eine kurze Stille, "die Kleine war nun mein Ein und Alles."
Dann ging es ganz schnell. Den Kindergarten besuchte Minu nicht. "Zuhause lernt sie mehr", fand der Vater. Mit drei Jahren konnte sie lesen. Im Kinderlexikon faszinierte Minu vor allem das Kapitel über die Planeten. Schnell kamen kompliziertere Bücher hinzu, mathematische, englische, französische. Immer vormittags las das Kind, da wollte ihr Vater "hauptsächlich geistige Arbeit für sie". Nachmittags ging er mit ihr auf einen Spielplatz.
Mit sechs Jahren wurde Minu Tizabi eingeschult, in die dritte Klasse. Zwei Jahre später wechselte ans Gymnasium. Nach drei Wochen wurde sie gleich weiter in die sechste Klasse versetzt - rein in den Turbozug, wie man in Baden-Württemberg das Abitur in acht statt neun Jahren nennt. Von da an war sie immer vier Jahre jünger als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler.
Wie hat sie das alles geschafft? Minu sitzt in ihrem Sessel, zieht die Schultern hoch: "Ich habe nicht mehr gelernt als andere auch. Vielleicht hatte ich bessere Voraussetzungen." Außerdem habe sie immer gute Lehrer gehabt, sehr nett und vor allem: kompetent. War sie nicht auch intelligenter? "Das kann jeder schaffen im Prinzip."
Thomas Paeffgen bezweifelt das. Der Direktor des Pforzheimer Hebel-Gymnasiums sitzt an seinem Konferenztisch und sagt, dass er seine 14-jährige Einser-Abiturientin für eine intellektuelle Superbegabung hält. Er erzählt aber auch: "In der fünften Klasse konnte Minu nicht mal einen Ball fangen oder einen Purzelbaum schlagen", sie habe so gut wie kein Körpergefühl gehabt. Ihr Vater hatte sie vom Sportunterricht befreien lassen, weil sie natürlich immer kleiner war als die anderen. "Auch musisch: keine Chance." Stattdessen durfte sie Physik wählen. "Mit etwas, dass nicht kopfgetrieben war, das mit Gefühlsausdrücken zu tun hatte, konnte sie wenig anfangen", sagt Paeffgen. "Außerhalb des Klassenzimmers habe ich sie fast immer nur in der Zuschauerrolle erlebt." Dann hält er sich die Hand vor den Mund, sagt "Hm".
War Minu eine Außenseiterin? Elke Engelmann, ihre Mathematiklehrerin, sagt: "Nein." Klar, sie habe oft Zusammenhänge gesehen, für deren Erörterung andere zwei Wochen gebraucht hätten. Minu habe sehr gern erörtert. "Nach einer Zeit haben die anderen ihre zusätzlichen Beiträge dann aber wohlwollend hingenommen." Das sei halt die Minu.
"Ja, die Minu. Das ist schon ein besonderer Fall", sagt Schulleiter Paeffgen. Und dass er ein bisschen Angst habe um sie, weil er manchmal das Gefühl hatte, dass sich ihr Vater in Minu verwirklichen wolle. "Und dass sie vielleicht nicht erkennt, was ihre eigenen Wünsche sind." Dann muss er los. Die fünfte Stunde ist gerade vorbei, im Flur bahnt er sich den Weg durch eine lärmende Schar von Schülern, vielleicht 8. Klasse, vielleicht 13 oder 14 Jahre alt.
Minu Tizabi wird ihr Studium im Herbst beginnen. Zwölf Semester soll es dauern. Würde sie das auch gern schneller durchziehen? "Nein", sagt sie, "man muss da ja vieles durchlaufen." Will sie denn Ärztin werden? Sie schaut zu ihrem Vater. "Eher Forschung und Lehre." Sie könne Dozentin werden, "kann aber auch sein, dass es nur bei der Forschung bleibt." Vor Heidelberg ist ihr nicht bange. Mit ihren Freundinnen vom Tischtennis bleibt sie bestimmt in Kontakt. Auch wenn es natürlich schwer wird. Vor allem, wenn das mit dem Parallelstudium doch noch klappen sollte.
Der Vater sagt aufmunternd: "Kannst ja vielleicht noch mal nachforschen, ob es da nicht doch eine Ausnahmeregelung gibt." Sie nickt, lächelt. Bei der Verabschiedung sagt sie: "Auf Wiedersehen. Vielen Dank für Ihr Interesse."
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