Tanz: Kein Frauenopfer heute
Mit "pedestrian movements" krempelte sie die Sprache des Tanzes um, mit feministischen Diskursen die Dramaturgie des Films: Yvonne Rainer war Gast auf der documenta Kassel und in Berlin.
S ie ist die Frau, die den Tänzern das Gehen beigebracht hat. Tänzer trippelten oder staksten, mit zusammengekniffenen Arschbacken, wenn sie nicht tanzten, aber einfach nur gehen, entspannt und selbstvergessen wie auf der Straße, das konnten sie lange nicht. Bis Yvonne Rainer, geboren 1934, Anfang der Sechzigerjahre in New York im Kreis der Judson Church begann, pedestrian movements, alltägliche Bewegungen, die Trainierte und Untrainierte, Tänzer und Nichttänzer ausführen können, als choreografisches Material zu benutzen. Ihr "Trio A, The Mind is a Muscle, Part 1" ist ein fünfminütiges Stück aus Gängen, Hinsetzen, Aufstehen, Drehungen der Gelenke, Wechseln der Richtungen, Bewegung pur, ohne Erzählung und ohne Vorwand. Seit der Uraufführung 1966 ist es zu einer Signatur für den Postmodern Dance geworden. "Lange Jahre habe ich das selbst jeden Tag getanzt. Die einzelnen Bewegungen sind einfach, aber die Zusammensetzung und die Kontinuität sind kompliziert", erzählt Yvonne Rainer morgens in der Garderobe des Hebbel-Theaters in Berlin, noch etwas müde nach der Premiere in der Nacht davor.
"Trio A" wurde von vielen Performern aufgenommen und ist eine Art Initiation in die Postmoderne geworden, mit der sich das Rollenverständnis des Tänzers nachhaltig änderte. Er ist seitdem nicht nur als Ausführender einer Choreografie auf der Bühne, sondern immer auch als Individuum, dessen Körper und Bewegungen von seiner eigenen Geschichte geprägt sind.
"Ich mag es noch immer, komplizierte Bewegungen mit pedestrian movements zu verbinden; die Tänzerinnen gehen zum Sofa, man sieht sie atmen, die Beine kreuzen, sich an der Nase kratzen", erzählt Yvonne Rainer auch über ihr neues Stück "RoS Indexical", mit dem sie auf die documenta nach Kassel und zum Festival Tanz im August nach Berlin eingeladen war. In Berlin zeigt außerdem das Arsenal eine Reihe ihrer Filme. "Eine Brücke zwischen meinen Filmen und der choreografischen Arbeit ist: Beide handeln davon, was es bedeutet, angeschaut und damit zum Objekt des Blicks zu werden. Es ist sehr schwer, natürlich zu sein, wenn das Publikum zuschaut. Einfach zum Sofa zu gehen, sich hinzusetzen."
Einfach zum Sofa zu gehen, sich hinzusetzen wird schwer vor allem dann, wenn man dabei eigentlich in einer Aufführung von Igor Strawinskys "Le sacre du printemps" drinsteckt, wie es die vier Tänzerinnen von "RoS Indexical" tun. Das ist eine hochdramatische Musik mit einer ekligen Geschichte, eine Legende der Ballettgeschichte und gendertechnisch betrachtet eine Unverschämtheit. Denn es geht um ein Frauenopfer, ein angeblich archaisches Ritual zur Versöhnung mit der Natur, das mit stampfenden, die Erde aufwühlenden Rhythmen vermittelt wird. Aber diesen Teil der Geschichte hat Yvonne Rainer einfach ausgelassen. Vielmehr scheinen bei ihr die Performerinnen zum einen ein Opfer des ehrgeizigen Choreografen, dessen Stimme man zum Anfang aus dem Off hört - "Whatever happens. Keep on going" -, und eines Publikums, das sich bald lautstark empört. Dieser Protest ist dabei Teil des Soundtracks, der von einem BBC-Feature über die Skandale der Uraufführung von "Le sacre du printemps" (1913 mit Nijinsky und Diaghilev) stammt.
Das ist also ganz schön viel, was die vier Tänzerinnen, teilweise langjährige Weggefährtinnen von Rainer, da zu stemmen haben: die Rezeptionsgeschichte von "Sacre", die Tanzlegende, die mit einem Skandal begründet wurde, die Rekonstruktion des Stücks als Fernsehformat - viele Filter, die den ursprünglichen Gegenstand in weite Ferne rücken. Die Performerinnen, die in Trainingshosen und Ringelsocken mehr nach privatem Warm-up denn nach Ruhm und Glorie aussehen, wehren sich gegen den gespielten Protest. Sie werfen in pantomimischen Gesten zurück, was auf die Bühne flog, und blicken grimmig. So wird das Stück zu einer augenzwinkernden Persiflage.
Man merkt es nicht unbedingt, aber tatsächlich sind zwei der Performerinnen über sechzig Jahre alt. Insofern hat das aggressive Spiel mit der Zurückweisung zwischen Tänzerinnen und Publikum in "RoS Indexical" etwas von einem Pamphlet, das gegen den Ausschluss des Alters protestiert, der nicht nur Tänzerinnen auf der Bühne einholt. "Getting older is a bitch", mit diesem Satz beginnt der Film "Privilege" (1990) von Yvonne Rainer, der zuerst wie ein Dokumentarfilm über die Menopause wirkt. Frauen erzählen ihren Freundinnen vom Verlust der Attraktivität, vom Schmerz des Übersehenwerdens, von der Angst vor Ausgrenzung. Aber dann dringen immer mehr Rückblenden und Traumsequenzen in den Film ein, die den erst eindeutigen Diskurs überlagern und ein kompliziertes Verhältnis zwischen den Diskriminierungen aufgrund des Alters, des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe aufbauen.
Es wird ungeheuer viel geredet in Rainers Filmen: Die Sprache ist den Bildern über, sie deutet sie; Stimmen streiten sich, wie eine Situation zu lesen ist; Begegnungen, Bewegungen werden wieder und wieder neu interpretiert. Nicht zuletzt das Bedürfnis nach einer solchen Diskursivität und dem ständigen Verhandeln von Gedanken hat Yvonne Rainer zum Film gebracht und zu einer wichtigen Avantgardefilmerin gemacht. Die Arbeit an der sozialen und politischen Positionierung schien ihr mit dem Tanz nicht mehr hinreichend zu leisten.
Sich zu positionieren, feministisch zum Beispiel, hält sie aber nach wie vor für notwendig: "Das geht weiter, solange wie man über Abtreibungsrechte streiten muss. Feminismus ist sehr lebendig. Die Kämpfe gehen weiter, damit müssen wir in der Kunst und in der Öffentlichkeit umgehen. Der Begriff des Postfeminismus ist eine Sackgasse. Viele junge Frauen denken, dass frühere Forderungen eingelöst sind, und sehen keine Notwendigkeit, sich feministisch zu engagieren. Aber ich denke, dass es immer noch sehr wichtig ist, sich einzusetzen für soziale Gerechtigkeit. Nicht nur als Frau; auch als jemand, der älter ist, der in einer rassistischen Gesellschaft lebt, als weiße, privilegierte Frau."
Aber all das geschieht bei ihr, ob auf der Bühne oder in den Filmen, immer mit gänzlich entdramatisierten Gesten. Gerade deshalb ist sie auch für eine feministische Filmtheorie wichtig, markiert sie doch vor allem durch das Mittel der Auslassung all die Gesten und Posen, die im Mainstream oder Hollywoodkino "Weiblichkeit" signalisieren. In dem Film "Life of Performers", ihrem ersten von 1972, geschieht das auf lustige und slapstickhafte Weise. Die Bilder erinnern an einen schwarz-weißen Stummfilm, die Geschichte von einem Mann zwischen zwei Frauen hat alle Qualitäten des Melodrams. Man sieht die Figuren agieren, reden, aber hört sie oft nicht. Stattdessen spekulieren Stimmen im Off darüber, was sie wohl gerade empfinden und denken. Der Ausdruck ihrer Körper und Blicke kommt der Größe ihrer Gefühle nie nach; ausgeglichen wird das durch ein Spiel, das wie eine psychoanalytische Figurenaufstellung in wechselnden Konstellationen wirkt. Die banale Alltäglichkeit, in der Rainer jeden Menschen sichtbar werden lässt, ob er nun spielt oder nicht, hat dabei meistens etwas zugleich Komisches und Berührendes.
Heute können alle Tänzer gehen, und das Spiel mit der realen Existenz auf der Bühne ist im zeitgenössischen Tanz zu einem Standard geworden. Im Kino dagegen sind die Erzähldramaturgien, die hinter das Spiel zurückgehen und bei der Arbeit an der Illusion zuschauen lassen, die Ausnahme geblieben. Für Filmemacher scheint das noch immer ein harter Weg, an dem Rainer als eine der Schutzheiligen steht.
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