: „Ich dachte, ich muss sterben“
AUS HANGZHOU, ANXI UND PEKING GEORG BLUME
Qiu Jinyou hat seinen golden lackierten chinesischen Kleinwagen Marke „Flyer“ auf dem bewachten Flughafenparkplatz der Provinzhauptstadt Hangzhou geparkt, um den Reporter abzuholen. Beim Verlassen will er die Parkgebühr sparen und versucht eine Seitenstraße zu nehmen. Doch das Wachpersonal passt auf. Qiu lacht und zahlt. Kurz darauf biegt er scharf von der Autobahn ab – statt einer regulären Ausfahrt nimmt er einen Feldweg. Er sagt, in China lohne es nicht, sich an Regeln zu halten. Man werde dafür nur bestraft.
Qiu Jinyou spricht aus bitterer Erfahrung. Doch erst einmal will er fröhlich sein. Er lädt zum Essen ein, vorher zeigt er uns noch die nagelneue Glasfabrik „Guanghua“, wo er Vize-Generaldirektor ist. Er führt in sein geräumiges Büro und bittet, auf dem luxuriösen Ledersofa Platz zu nehmen. Er sagt, er suche nach Kontakten zur Firma Schmid-Glasbearbeitung in Ravensburg und deren Chef Heinz Schmid. Er braucht einen geschäftlichen Vorwand für dieses Gespräch. Und er braucht Anlaufzeit.
Qiu, 48 Jahre, Typ hager, agil und braungebrannt, hat sich entschlossen, erstmals mit einem ausländischen Reporter über seine Foltererfahrungen im polizeilichen Psychiatrie-Krankenhaus der Stadt Hangzhou zu sprechen. Dazu gehört zweifellos Mut. Qiu klagt die chinesische Polizei schwerster Verbrechen an. Schon viermal haben die Volksgerichte der Bezirke Yuhang und Xiaoshan in Hangzhou seine Klage abgewiesen. Zuletzt am 9. Oktober dieses Jahres. Über seinen Fall wurde in den staatlich kontrollierten Medien nicht berichtet. Nur ein chinesischer Internet-Journalist hat seine Geschichte recherchiert.
Qiu ärgert das. Er spricht nicht gern über das, was ihm widerfahren ist. Aber noch quälender ist es, nie Recht bekommen zu haben. Fürs Leben gebrandmarkt zu sein. „Offiziell ist er immer noch geisteskrank“, erklärt seine Frau Shen Yufeng. „Die Behörden behandeln ihn als rechtlosen Menschen.“
Qiu und seine Frau empfangen zum Essen in ihrem Einfamilienhaus, das sie mit ihrem erwachsenen Sohn teilen. Hier kann Qiu sprechen. „In einem Ankang-Krankenhaus gibt es nichts als Terror und Angst“, sagt er. „Nicht einmal Mörder werden dort so behandelt wie die, die gegen die Regierung aufbegehren. Ich wurde damals drei bis vier Mal pro Woche gefoltert. Ich dachte, ich muss sterben.“
„Ankang“ heißt übersetzt „Sicherheit und Gesundheit“. Den beschönigenden Namen wählte die Pekinger Regierung 1987 für eine ihrer gefürchtetsten Einrichtungen: die seit den 50er-Jahren nach sowjetischem Vorbild gebauten Polizei-Psychiatrien. Ankangs dienen nicht zur Behandlung gewöhnlicher Geisteskranker, die in China in kommunalen Krankenhäusern behandelt werden.
„Ankang-Krankenhäuser dienen allein der Behandlung von Geisteskranken, die die gesellschaftliche Stabilität gefährden“, betonte Zhu Entao, assistierender Minister für öffentliche Sicherheit in Peking, in der letzten öffentlichen Stellungnahme zum Ankang-Thema im Oktober 2002. Bei den „Geisteskranken“ kann es sich um verurteilte Mörder handeln, um Vergewaltiger und Drogensüchtige – oder eben um Leute wie Qiu Jinyou. Um politische Gefangene.
Qiu war in den 90er-Jahren Personalchef der staatlichen Chemiefabrik Hongshan im Bezirk Xiaoshan von Hangzhou. Er bemerkte dort, dass das Management der Fabrik Geld veruntreute. Er sammelte Beweise, und als er genügend belastendes Material zu haben glaubte, auch Unterschriften unter den Angestellten. Damit ging er zur Beschwerdebehörde der Zentralregierung in Peking. Die Beamten dort unterrichteten die Hangzhouer Polizei, die ihn bei seiner Rückkehr festnahm und ohne ärztliche Untersuchung ins Ankang einwies. Es war der 15. September 1997.
Qiu hat den Ort seiner Misshandlungen noch klar vor Augen. Er liegt zwischen hellgrünen Reisfeldern und dunkelgrünen Teebergen in der Gemeinde Anxi im Bezirk Yuhang der Stadt Hangzhou. „Ankang-Krankenhaus der Polizei der Stadt Hangzhou“ ist am Tor mit goldenen Schriftzeichen in eine weiße Steinplatte gemeißelt. Es ist das älteste Ankang Chinas, errichtet im Jahr 1954 auf dem Gelände eines buddhistischen Tempels. Im mit Palmen und Zedern bepflanzten Vorgarten des Krankenhauses steht ein Fahnenmast, von dem die chinesische Flagge weht. Man kann Qiu schlecht bitten, hierher, an diesen Ort mitzukommen. Doch wenn man davorsteht, erklärt er über das Mobiltelefon, dass er rechts im Seitenbau im zweiten Stock untergebracht war. Er beschreibt den Weg zur Folterkammer: „Man geht vorbei an drei französischen Platanen.“ Die Bäume stehen noch.
208 Tage musste Qiu im Ankang zubringen. Dieselben Polizisten, die ihn festgenommen hatten, banden ihn mit Gurten um den Bauch an einem Stuhl fest. Sie befestigen seine Handgelenke auf einer Tischplatte und führten Nadeln in seine Handflächen ein, die an ein Gleichstromgerät angeschlossen waren. Qiu ahmt an seinem Esstisch die Haltung nach, in der man ihn folterte. Er erhielt Stromstöße, wenn er sich weigerte, die Namen seiner Mitarbeiter zu nennen. Ebenso, wenn er sich weigerte, sich als geisteskrank zu bezeichnen.
Einmal brachten die Polizisten ihn in die Kantine, banden ihn fest und bedrohten ihn mit glühenden Eisenstäben. Täglich erhielt er starke Psychopharmaka. Er zählte mit: „Sie zwangen mich, 63 Pillen einer Sorte und 144 Pillen einer anderen Sorte zu nehmen.“
Die Medikamente, deren Namen er nicht kannte, machten ihn krank. Er litt unter Haarausfall, Spasmen, Schlaflosigkeit, Nervenschwäche und Gedächtnisverlust. „Es waren Experimente an lebenden Menschen“, sagt Qiu.
Mit seinen Anschuldigungen steht Qiu nicht allein. Seit dem 16. August haben die Opfer der chinesischen Ankangs im Westen eine prominente Stimme. An diesem Tag nämlich nahm Chinas bis dahin bekanntester politischer Gefangener, Wang Wanxing, den Air-China-Flug CA 931 von Peking nach Frankfurt. Er war in Begleitung des deutschen Diplomaten Matthias Biermann. Bundeskanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer hatten seit Jahren Wangs Freilassung gefordert. Bei jedem ihrer Treffen mit den chinesischen Regierungsspitzen übergaben sie eine Liste politischer Gefangener, auf der stets auch Wangs Name stand.
Nun hatten sie Erfolg. Wang ist der erste politische Gefangene, den Peking nicht in die USA, sondern in ein anderes Land, nach Deutschland, entlässt. In Berlin erkennt man darin ein Zeichen, dass weitere positive Einzelfallentscheidungen möglich sind. Um den Prozess nicht zu erschweren, bedeuteten Vertreter der Bundesregierung Wang, er möge nach seiner Ausreise Diskretion bewahren. So hatte Peking es verlangt. Wochenlang schwieg Wang, lebte von der Öffentlichkeit zurückgezogen in einer Sozialwohnung in Frankfurt-Sossenheim. Bis die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch letzte Woche seine Freilassung verkündete.
Endlich kann Wang reden. „In Deutschland gibt es ja die Redefreiheit“, bemerkt er vergnügt. 13 Jahre verbrachte er vor seiner Ausreise im Ankang-Krankenhaus der Stadt Peking. Der Flug nach Frankfurt war für den 56-Jährigen wie eine Reise „von der Hölle in den Himmel“. Jetzt ist er wieder bei Frau und Tochter, die in Deutschland politisches Asyl genießen. Wang wirkt wohlauf.
Er ist der Erste, der im Exil ungehindert über die Menschenrechtsverletzungen im Ankang berichten kann. Er gilt als Dissident der ersten Stunde, weil er schon als Jugendlicher gegen die Kulturrevolution protestiert hatte. Er setzte sich für die Rehabilitierung Deng Xiaopings während des Terrorregimes der Viererbande ein. Er unterstützte die demokratische Studentenrevolte 1989. Er forderte in einer Einzelaktion am 4. Juni 1992 auf dem Tiananmenplatz in Peking die Rehabilitierung der hier Ermordeten. Es war der dritte Jahrestag des Massakers. Dafür steckte ihn die Polizei ins Ankang, 13 Jahre lang.
„Ich würde es wieder tun“, sagt Wang heute. Was er seither durchgemacht hat? „Ich war nie geisteskrank, trotzdem haben sie mich 13 Jahre lang mit Geisteskranken zusammengeschlossen. Das war die schwerste Form der Bestrafung.“ Er hat Zelle an Zelle mit Schwerverbrechern gelebt, die ihn immer wieder bedroht haben. Einmal musste er zuschauen, wie Mitpatienten einen anderen politischen Häftling, sein Name war Huang Youliang, auf seinem Bett festhielten und ihn zwangen, Glukose aus einer Flasche zu trinken. Huang befand sich im Hungerstreik, nun sollte er auf Befehl des Personals zur Nahrungsaufnahme gezwungen werden. Dabei würgten ihn die Mitinsassen zu Tode. „Der Mord wurde nie unabhängig untersucht. Nur der verantwortliche Polizeiarzt schrieb einen Bericht“, empört sich Wang noch heute.
Für Ankang-Patienten war die Lage ausweglos. Wer sich nicht an die Regeln hielt, wurde mit Stromstößen durch eine Nadel in der Oberlippe bestraft. Täglich wurde Wang Zeuge solcher „ärztlichen Maßnahmen“. Jede Beschwerde war sinnlos. „Es gibt keinerlei Gerichtsverfahren, keinen Anwalt. Das polizeiliche Urteil, geisteskrank zu sein, besteht ohne Einspruchsmöglichkeit und unbegrenzt. Das macht die Hoffnung auf Entlassung so schwer, schwerer als im Gefängnis oder Arbeitslager, wo die Strafen zeitlich begrenzt sind“, sagt Wang.
Ihm aber erging es besser als anderen. Nie wurde er so wie sie bestraft. Viele Ankang-Angestellte beschwerten sich bei ihm, weil sie nicht wussten, wie sie ihn behandeln sollten. Er gehöre in ein Gefängnis, sagten manche. Auch wusste die Krankenhausleitung von seiner Bekanntheit im Ausland und gewährte ihm Privilegien: Radio, Bücher, Zeitungen.
Der Schuhfabrikarbeiterin Meng Xiaoxia in Chinas alter Kaiserstadt Xian wurden solche Vorteile nicht gewährt. Die 54-Jährige war zehn Jahre lang im Ankang eingesperrt – sie hatte den Sohn des ehemaligen Leiters ihrer Fabrik wegen Regelverstößen bei der Arbeit angezeigt. Der schlug Meng daraufhin bewusstlos und aktivierte seine guten Verbindungen zu den örtlichen Polizei- und Ankangverantwortlichen. Meng war wehrlos. Sie verschwand ohne ärztliches Gutachten in der Polizei-Psychiatrie.
Heute lebt sie in einer kleinen Sozialwohnung in Xian. Sie hat zum Gespräch mit dem Reporter zwei Freundinnen herbeigerufen: eine ehemalige Kollegin und eine Frau, die Opfer der Kulurrevolution war. Allein traut sie sich nicht.
Der Fall Meng ist der einzige in China öffentlich gemachte Ankang-Skandal. Im letzten Jahr berichteten nicht nur Lokalzeitungen, sondern auch das Pekinger Staatsfernsehen CCTV über sie. Noch gestern besuchte Mengs Anwalt Zhang Jinyi das Volksgericht des Bezirks Xincheng in Xian. Der Richter nannte ihm Mengs Verhandlungstermin: 21. November, 9 Uhr. Ein großer Erfolg für die mittellose Arbeiterin. Mehrmals wurde ihre Klage zuvor abgewiesen, jetzt soll erstmals über ihren Fall verhandelt werden, noch dazu öffentlich, wie Rechtsanwalt Zhang betont.
Was dabei zur Sprache kommen müsste? Meng wurde Opfer der stärksten psychiatrischen Waffen: Dreimal erhielt sie ein Elektroschocktherapie, einmal eine Insulinschocktherapie. Sie schildert Details: Wie der Arzt mit Metallplatten versehene Spezialhandschuhe überstreifte, ihr die Platten an die Stirn drückte. „Dann knallte es“, sagt Meng.
Sie erzählt, wie sie nach der Insulinschocktherapie tagelang im Koma lag. Wie sie über Jahre täglich dreimal Chlorpromazin, ein Psychopharmakon mit starken Nebenwirkungen, verabreicht bekam. Was sie nicht erklären kann: Wie sie die Jahre in der Anstalt überlebt hat. „Ich würde lieber sterben, als noch einmal ins Ankang zu gehen“, sagt Meng.
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