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Filmfestspiele VenedigAng Lee will es genau wissen

Cristina Nord
Cristina Nord
Kommentar von Cristina Nord und Cristina Nord

Über den zweiten Löwen für den virtuosen Regisseur der Gefühle, Ang Lee, kann man sich freuen, ansonsten aber blieb das Festival blass.

Regisseur Ang Lee mit Trophäe. Ein Glanz immerhin. Bild: dpa

H ongkong Ende der 30er-Jahre. China und Japan führen Krieg, die Kronkolonie steht im Begriff, in japanische Hände zu fallen. Im Wohnzimmer eines weitläufigen Appartments sitzt die Studentin Wang Chia-Chih (Tang Wei), neben ihr eine Kommilitonin. Im Türrahmen und im Nebenzimmer stehen junge Männer. Es sind Studenten, patriotisch gesinnte junge Menschen. Im militanten Kampf haben sie zwar wenig Erfahrung, doch umso entschiedener verfolgen sie ihr Ziel: Sie wollen Yee, einen mächtigen Mann und Kollaborateur der Japaner (Tony Leung), töten.

Um besser an ihn heranzukommen, soll Wang Chia-Chih dessen Geliebte werden. Das haben sie eben beschlossen, doch nun sitzt Wang Chia-Chih auf dem Sofa, und etwas Ungeklärtes liegt schwer in der Luft. Man merkt das an der Art und Weise, wie die Blicke der Figuren den Raum queren oder wie Sätze halb aus-, aber nicht zu Ende gesprochen werden. Es ist die Frage: Weiß Wang Chia-Chih denn überhaupt, wie es ist, mit einem Mann zu schlafen? Wie das geht: eine Geliebte zu sein?

Die Preisträger

Die internationale Jury der 64. Filmfestspiele von Venedig hat folgende Preise vergeben: Der Goldener Löwe für den besten Film ging an "Lust, Caution" von Ang Lee.

Einen Goldenen Ehrenlöwen für sein Lebenswerk erhielt Bernardo Bertolucci.

Den Silbernen Löwen für die beste Regie konnte Brian de Palma für "Redacted" entgegennehmen.

Den Spezialpreis der Jury teilen sich die Filme "Le Grain et le Mulet" von Abdellatif Kechiche und "Im Not There" von Todd Haynes.

Einen "Coppa Volpi" als beste Schauspieler bekamen Brad Pitt für seine Rolle des Jesse James in "The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford" von Andrew Dominik und Cate Blanchett für ihre Verkörperung des jungen Bob Dylan in "Im Not There" von Todd Haynes.

Sie weiß es nicht, und deshalb wird einer der Studenten - der einzige, der immerhin schon "Erfahrung mit Prostituierten" hat, - ausersehen, es ihr beizubringen. Die Verhandlung darüber vollzieht sich in einer frappierenden Mischung aus Verstocktheit, peinlichem Schweigen, halben Sätzen und verschämten Blicken. Man ist zum Äußersten bereit, doch reden kann man darüber nicht.

Es ist dies nur eine Szene in Ang Lees neuem Film "Se, Jie" ("Lust, Caution"), und doch steht sie stellvertretend für das herausragende Talent des Regisseurs, widersprüchliche Gefühlslagen in wenigen Einstellungen darzulegen. Lees Kino erschließt in Andeutungen und genau beobachteten Details einen ganzen Kosmos von inneren und äußeren Konflikten. In "Se, Jie" ist es das Double Bind, in das Wang Chia-Chih gerät, je länger ihre Affäre mit Yee währt. Nicht, dass sie sich in den Mann verliebte, dazu ist er zu sehr als Feind markiert, dazu ist sie ihren politisch-patriotischen Idealen zu treu.

Trotzdem kann sie ihre Distanz, kann sie den Panzer aus Verstellung und Schauspiel nicht intakt halten. Wang Chia-Chih wird von dem, worauf sie sich mit Yee einlässt, affiziert. "Wie eine Schlange kriecht er zu meinem Herzen empor" sagt sie einmal, als sie einem Verbindungsoffizier zu erklären versucht, was die sexuellen Begegnungen mit Yee in ihr auslösen. Der Offizier will es so genau nicht wissen und ermahnt sie zum Schweigen.

Ang Lee aber will genau wissen, wie es ist, wenn eine junge Frau so kühl und kalkuliert ist, ihr sexuelles und emotionales Erleben einem politischen Ideal unterzuordnen, aber nicht kühl genug, um die Kontrolle zu bewahren. Er will genau wissen, wie dieser Kontrollverlust aussieht, und er findet die Bilder dafür. Das macht die Virtuosität seines Kinos aus.

So nimmt es nicht wunder, wenn der aus Taiwan stammende, in den USA lebende Lee nun zum zweiten Mal in dichter Folge bei der Filmbiennale von Venedig einen Goldenen Löwen erhält. 2005 bekam er die Auszeichnung für sein Western-Melo "Brokeback Mountain", am Samstagabend für "Se, Jie". Die Entscheidung der Jury, deren Vorsitz der chinesische Regisseur Zhang Yimou innhehatte, ist auch deshalb nachvollziehbar, weil nur wenige Wettbewerbsfilme der Mostra so uneingeschränkt überzeugten wie "Se, Jie".

Im vergangenen Jahr hatten Marco Müller, der Direktor des Festivals, und sein Team eine glückliche Hand bei der Filmauswahl; in diesem war ihnen weniger Fortune beschieden. 23 Filme und einige viel versprechende Namen umfasste der Wettbewerb, viele Beiträge boten die Attraktionen gut gemachten Hollywood-Kinos (etwa Paul Haggis "In the Valley of Elah" und Tony Gilroys "Michael Clayton" ), einige stammten von Autorenfilmern, die auf viele Arbeitsjahre und ein großes Oeuvre zurückblicken, von Eric Rohmer, Ken Loach oder Youssef Chahine zum Beispiel. Das spricht nicht zwangsläufig gegen die einzelnen Filme, ergibt aber in der Summe einen gewissen Mangel an Abwechslung.

Am Ende begeisterten nur "Se, Jie" und Todd Haynes Anti-Biopic "Im not there", ein entfesselter, multiperspektivischer Film über Vita und Werk Bob Dylans. Letzterer erhielt den Spezialpreis der Jury ex aequo mit "La Grain et le mulet" von Abdellatif Kechiche; Cate Blanchett, die Darstellerin einer der sechs Dylan-Figuren in "Im not there", wurde für ihre Leistung mit der Coppa Volpi ausgezeichnet.

Der zweitwichtigste Preis des Festivals, der Silberne Löwe, ging an "Redacted" von Brian De Palma, mithin an den Film, der die kontroversesten Diskussionen auslöste. "Redacted" spielt im Irak der Gegenwart und gibt sich von Anfang an kämpferisch. Gleich in den ersten Einstellungen macht De Palma deutlich, dass sein Film als Anti-Hollywood- und Anti-Illusions-Kino auftritt. Keine Helden, keine bekannten Schauspieler, keine ästhetische Veredelung des Kriegsgeschehens. Stattdessen kaputte Figuren und Digitalvideo-Aufnahmen, eine improvisierte Anmutung, die Authentizität suggeriert, deshalb aber nicht minder konstruiert ist.

"Redacted" kombiniert die wackligen Videotagebücher der Soldaten mit gestellten journalistischen Recherchen, und er spielt die Trophäenbilder ein, die auf beiden Seiten der Front angefertigt werden. Eine Enthauptung und die Detonation einer Mine an einem US-Stützpunkt sind auf einer fiktiven islamistischen Website zu sehen. Wie zwei US-amerikanische Soldaten eine Schülerin vergewaltigen und töten, fängt die Digicam eines dritten US-Soldaten ein, in fahrigen Bildern und dem rauen Look des Nachtsichtgeräts.

Neu und interessant an "Redacted" ist, wie sehr sich der Film an den Bildwelten des Internet orientiert. Er geht der Frage nach, wie das Netz vom Fernsehen die Rolle übernommen hat, unsere Vorstellungen vom Krieg zu prägen. Schließlich war es das Netz, in dem zuerst, als Trophäen, die Bilder aus Abu Ghraib zirkulierten; schließlich ist es das Netz, in dem die Bilder wuchern, und zu allerlei Zwecken verwendet werden - zur Propaganda genauso wie zur Selbsttherapie.

Doch diese Fülle wird eingehegt, weil De Palma in das disparate Material eine recht einfache narrative Schneise schlägt. Immer wieder betont er die Arroganz und die Ignoranz der US-amerikanischen Besatzungstruppen. Weder an den Checkpoints noch bei Hausdurchsuchungen wissen sie, was sie tun, und bevor sie sich schlaumachen, schießen sie lieber. Dies wird weniger als strukturelles, dem Krieg inhärentes Problem erfasst denn als eine Frage von Sadismus.

Manchmal hat "Redacted" etwas geradezu obszön Schlichtes, so dicht bewegt sich De Palma am Exploitation-Kino. Am Ende scheint der Regisseur denn auch der Erforschung der Netz-Bilderwelten müde; er blendet Pressefotos ein, die verletzte und tote Zivilisten abbilden, vor allem tote Kinder. Hier ist ein agitatorischer Furor im Spiel, der jede differenzierte Frage unterbinden möchte. Aber: Warum sollte man nun ausgerechnet diesen Bildern trauen? Warum stellt der Film ihren Wahrheitsgehalt nicht zur Debatte? Und warum schickt De Palma zunächst so viele Bilderstränge ins Rennen, um sich am Ende doch auf den kräftigen emotionalen Effekt, den Aufnahmen entstellter Körper auslösen, zurückzuziehen?

So liegt denn das größte Verdienst des Filmes weniger in ihm selbst als in seiner Fähigkeit, leidenschaftliche Diskussionen über angemessene Formen der Kriegsdarstellung zu entfachen.

Wie es unterdessen mit der Mostra internazionale darte cinematografica weitergeht, ist offen. Es war das vierte Festival unter Marco Müllers Leitung; sein Vertrag ist auf vier Jahre begrenzt. Viel wurde dementsprechend darüber spekuliert, unter welchen Bedingungen Müller weitermachen würde. Definitives weiß niemand zu sagen. Noch werde verhandelt, heißt es am Samstag in der Pressestelle der Mostra - vermutlich bis zum Dezember, bis Müllers Vertrag endgültig auslaufe. Dabei geht es in den Verhandlungen nicht nur um die finanzielle Ausstattung des Festivals, sondern auch um eine Erneuerung der Infrastruktur: Mehr und neuere Kinos stünden dem Festival gut an.

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Kulturredakteurin
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