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animé-dvdSturz durch das Kaninchenloch

Ein Film ohne sichere Seite. Animé-Großmeister Satoshi Kon ("Perfect Blue") macht in"Paprika" keinen Unterschied zwischen Wirklichkeit und Traum.

Paprika, die rothaarige Trapezkünstlerin aus dem Traum. Bild: screenshot

Eine Szene im Zirkus. Der Polizist Konakawa gerät im Publikum ins Scheinwerferlicht, findet sich kurz darauf in einen Käfig mitten in der Arena versetzt, es stürzt ein Mob auf ihn zu, aber alle in diesem Mob haben das Gesicht von Konakawa selbst. Es öffnet sich der Boden unter dem Käfig, Konakawa stürzt und wird mit knapper Not von einer rothaarigen Trapezkünstlerin aufgefangen, mit der er im nächsten Moment wie Tarzan an einer Liane durch den Dschungel schwingt. Einen Schnitt später würgt ihn ein maskierter Mann, die Trapezkünstlerin schlägt diesem eine Gitarre auf den Kopf. Gleich darauf verfolgt Konakawa einen Flüchtigen, gerät in einen Hotelflur, in dem ein anderer Mann in Zeitlupe zu Boden schwebt. Konakawa rennt den Flur hinunter, die Wände, der Boden verformen sich, am Ende des Gangs eine Tür, dahinter gleißendes Weiß. Wieder stürzt Konakawa.

Und er erwacht, an seiner Seite die rothaarige Trapezkünstlerin aus dem Traum - Paprika. So beginnt der jüngste Anime von Großmeister Satoshi Kon ("Perfect Blue", "Tokyo Godfathers"). Die Szene des Beginns wird im Lauf des Films wiederkehren, weil "Paprika" ein Rausch des Erinnerns, Wiederholens und Durcharbeitens ist. Mit dem Erwachen ist der Polizist nicht auf der sicheren Seite, denn eine sichere Seite gibt es in "Paprika" nicht. Paprika, die Frau aus dem Traum, die Frau in der Wirklichkeit in Konakawas Bett, entfernt im nächsten Moment einen kleinen Bügel von seinem Kopf. Es ist der "DC Mini", eine Erfindung, die das gemeinsame Träumen, die Beobachtung fremder Träume, das Eindringen in die Träume des Anderen, aber auch das Einschleusen von Trauminhalten ermöglicht.

Der Haken bei diesem ersten Erwachen: Paprika, die Konakawa das Prinzip des "DC Mini" erklärt, existiert in Wirklichkeit nicht. Oder: Sie ist in Wahrheit die Wissenschaftlerin Dr. Chiba und als solche mit der Entwicklung des Trauminstruments betraut. Oder: Sie ist das ungebändigte Alter Ego der stets kontrollierten Chiba, Verführerin und Retterin in einem, das Prinzip der Instabilität selbst. Und instabil ist in "Paprika" nicht nur die Grenze zwischen Realität und Traum, sondern auch die zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen imaginierten und wahren Identitäten und nicht zuletzt zwischen Wirkung und Ursache.

Diese ständige Grenzverletzung, das Kreuzen zwischen Möglichem und Wirklichem, das Verschneiden von Ohnmachtsfantasien mit Allmachtsträumen, ist das Grundgesetz, das "Paprika" sich gibt. Die Versatzstücke aus Science Fiction, Krimi und Cyberpunk sind nur der schwingende Boden, von dem die Geschichte sich lustvoll in Bilderfluchten katapultiert - erstmals bei Kon als fugenlose Verbindung von digitalen Effekten und traditioneller Zeichenarbeit realisiert. Der Film ist ein endloser Sturz durch das Kaninchenloch, ein Wirbel der Bilder und Aktionen. Durchgedrehtes Spielzeug macht einen Heidenlärm, ein Schurke entwendet in finsterer Absicht den "DC Mini", die Dinge verwandeln, die Ereignisse überstürzen sich.

Kein Wunder, dass Konakawas Weg mehr als einmal direkt ins Kino führt. Einmal gelingt ihm der buchstäbliche Durchbruch auf die andere Seite der Leinwand. Und ziemlich genau in der Mitte des Films erklärt er Paprika in einem (zunächst) leeren Kino das Prinzip des filmischen Achsensprungs, jenes "verbotenen" Schnitts also, bei dem eine imaginäre Linie zwischen zwei Figuren gekreuzt wird. Verboten ist dieser Schnitt, weil der Betrachter, der plötzlich rechts im Bild sieht, was eben noch links war, in seiner Raumwahrnehmung desorientiert wird. "Paprika" ist ein Film, der dieses Verbot und mit ihm das Realitätsprinzip zum Teufel jagt.

Das Ergebnis dieses Befreiungsakts bleibt allerdings durch und durch ambivalent. Der "DC Mini" ist keine Wunschmaschine. Zwischen euphorisierendem Gleiten von einer möglichen Welt zur nächsten und dem Entgleiten jeder Kontrolle liegt oft genug nur ein Schnitt oder Sprung. "Paprika" ist ein Film ohne sichere Seite. Ein jeder träumt hier und wird geträumt.

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