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Debatte SPDDer Dritte Weg in die Sackgasse

Stefan Reinecke
Kommentar von Stefan Reinecke

Wer die SPD verstehen will, muss nach Schweden und Großbritannien schauen. Die Neosozialdemokraten sind in der Krise. Auch deshalb war Becks Kurskorrektur überfällig

D ie Sozialdemokraten haben seit ihrer Wende zur Neuen Mitte hin 1997 die Hälfte ihrer Mitglieder verloren. Ihre sozialpolitische Bilanz ist verheerend. Vor zwanzig Jahren galten noch 13 Prozent der Bürger als arm, 2007 sind es 20 Prozent. Gleichzeitig haben die Sozialdemokraten Besserverdienende und Unternehmen mit Steuergeschenken überhäuft. Die Sozialdemokraten regieren zwar noch, aber in Umfragen liegen sie hinter der konservativen Konkurrenz, die erfolgreich links blinkt und sich einer sozialen Rhetorik bedient.

Die Rede ist nicht von der SPD, sondern von der britischen Labour Party. Ende der 90er-Jahre war New Labour der Leitstern vieler Sozialdemokraten. Tony Blair schien den Weg zu einer modernen, erfolgreichen Mitte-links-Partei zu weisen, die freudig historischen Ballast über Bord warf. Die Neosozialdemokraten setzten nicht mehr, wie die Arbeiterbewegung seit 150 Jahren, auf Kollektive, sondern auf das Individuum. Ihr Ziel war nicht länger die Umverteilung via Staat, damit die Kluft zwischen Reich und Arm nicht dramatisch anwächst. Ihr Ideal war der aufstiegswillige, leistungsfähige Einzelne. Sozialpolitik war logischerweise vor allem Bildungspolitik, die diesen Aufstieg ermöglichen sollte. Mehr Bildung, weniger Umverteilung, mehr Markt, weniger Staat - dies waren die Kernideen der Neosozialdemokratie, die mit der Theorie des Dritten Weges und Gemeinsinn stiftenden Rhetorik aufgehübscht wurde.

taz

Stefan Reinecke, 48, lebt in Berlin- Kreuzberg, war früher Redakteur der taz-Meinungsseite und ist seit fünf Jahren Autor der taz. Er beschäftigt sich vor allem mit Innenpolitik, Parteien und Geschichtspolitik.

Die Hinwendung zu einem teils rhetorisch gedämpften, teils aggressiven Neoliberalismus hat den Neosozialdemokraten eine Weile lang beeindruckende Wahlsiege beschert. Offenbar spiegelte ihr Aufstiegsversprechen das Selbstbild der hedonistischen, hoch individualisierten und produktiven Gesellschaft.

Damit scheint es vorbei zu sein. Schweden, Frankreich, die Niederlande und Dänemark werden konservativ regiert, New Labour droht an inhaltlicher Ödnis zugrunde zu gehen. Diese Krise der europäischen Sozialdemokratien ist kein Zufall. Ihre Versprechungen haben sich vor der Wirklichkeit blamiert. Sie haben ihre Rolle als Hüter sozialer Gerechtigkeit aufgegeben, ohne diese Leerstelle anders zu füllen. Die neuen Slogans "Bildung" und "Chancengerechtigkeit" sind wohlklingende Überschriften für Sonntagsreden, mehr nicht. Wer arme, ungebildete Eltern hat, wird höchstwahrscheinlich selbst arm und ungebildet. An diesem Mechanismus haben die Neosozialdemokraten nichts verändert - im Gegenteil. Die Bildungssysteme in Großbritannien und Deutschland sind sozial noch abgedichteter als früher. Die "Chancengerechtigkeit", die das sinnstiftende Schlüsselwort der Neosozialdemokraten werden sollte, blieb ein leeres Versprechen.

Gleichzeitig ist in Großbritannien, Deutschland und auch der EU der Abstand zwischen unten und oben deutlich gewachsen. Die Reallöhne sind gesunken, die Gewinne drastisch gestiegen. Wer für Lohn arbeitet, bekommt faktisch weniger als vor zehn Jahren. Wer Aktien hat, mehr. Diese wachsende Ungleichheit in den westlichen Metropolen hat viele Ursachen: vor allem das globale Überangebot an Arbeit und die Schwächung des Nationalstaats im globalisierten Kapitalismus. Die Neosozialdemokraten haben diese Ungleichheit nicht geschaffen, aber wie ein Naturereignis akzeptiert - und mit ihrer Steuerpolitik noch verschärft. Kein Wunder, dass sich Teile ihrer lohnabhängigen Stammklientel endgültig von ihnen abgewandt haben.

Der Neosozialdemokratismus scheint in Westeuropa, nach gut zehn Jahren, ein Auslaufmodell zu sein. Denn auf die Gerechtigkeitslücken, auf die wachsenden Abstiegsängste der Mittelschichten und der Älteren und die enormen Schwierigkeiten des jugendlichen Prekariats, eine stabile soziale Rolle zu finden, hat er schlicht keine Antwort.

Die Krise der SPD ist also kein deutsches Phänomen. Es geht der SPD sogar noch relativ gut. Jedenfalls relativiert der Blick über die Grenzen die Beschwörungen des nahenden Untergangs, die allenthalben angestimmt werden.

Womöglich erleben wir derzeit eine tektonische Verschiebung in der west- und nordeuropäischen Parteienlandschaft nach rechts. Während die Neosozialdemokraten ihre Ladenhüter "Chancengerechtigkeit" und "Aufstieg" abstauben, starrsinnig behaupten, dass Sparpolitik und Neoliberalismus light alternativlos sind, werden sie von Konservativen rhetorisch links überholt. In Schweden, dem Traumland der Sozialetatisten, haben die Sozialdemokraten 2006 die Wahl verloren. Bezeichnenderweise unterlagen sie bürgerlichen Parteien, die genau jene Themen adoptierten, die die zu kühlen Reformtechnokraten gewandelten Sozialdemokraten kampflos geräumt hatten: sozialen Ausgleich und Gerechtigkeit. Seitdem wird Schweden, zum dritten Mal seit 1932, konservativ regiert.

In Deutschland versuchen Jürgen Rüttgers und, gelegentlich, auch Angela Merkel ein ähnliches Überholmanöver. In Großbritannien greift Tory-Chef David Cameron New Labour mit sozialstaatlichen Themen an. Besonders gefährlich sind Merkel, Cameron & Co. für die Neosozialdemokraten, weil sie, etwa in der Familien- und Minderheitenpolitik, die Konservativen modernisieren und somit für die liberale Mitte wählbar machen.

Kurt Becks auf dem Hamburger Parteitag besiegelte sanfte Kurskorrektur war insofern schlicht überfällig. Beck ist es dabei gelungen, die SPD symbolisch aus der Enge der Schröder-Ära zu befreien, ohne der Regierungspartei SPD eine neue Zerreißprobe zu bescheren. Wahrscheinlich konnte nur ein Meister des Unentschiedenen wie Beck die SPD mit sich selbst versöhnen und den Schröderismus verabschieden, ohne neue Scherbenhaufen zu hinterlassen.

Das Dogma der Schröder-Ära TINA ("There is no alternative"), mit dem noch jede Steuersenkung und Privatisierung durchgepeitscht wurde, wurde in Hamburg im Schongang entsorgt. So auch beim wichtigsten Beschluss des Parteitags: dem halben Nein zur Bahnprivatisierung. In der marktgläubigen Schröder-Ära hätte die SPD nie gewagt, eine einmal beschlossene Privatisierung infrage zu stellen. Gewiss, sogar dieses zaghafte Nein würde es ohne den Widerstand der unionsgeführten Bundesländer gegen die Bahnprivatisierung kaum geben. Trotzdem:Die SPD scheint wieder durchlässig für gesellschaftliche Stimmungen zu sein.

Die Beck-SPD ist in vielem noch diffus und konzeptuell unklar. So ist Beck ein verbohrter Gegner von Rot-Rot und heftiger Anhänger einer Ampelkoalition. Wie er Mindestlohn, mehr Sozialstaat und weniger Leiharbeit mit der Westerwelle-FDP durchsetzen will, ist sein Geheimnis.

TINA, das war der ebenso hilflose wie machtgestützte Slogan der Neosozialdemokraten. Das Motto der Postneosozialdemokraten scheint nun zu sein: Es gibt Alternativen, auch wenn wir noch nicht genau wissen, welche. Ein mitreißendes Programm für die Zukunft ist das nicht. Aber immerhin ist die Zukunft der SPD seit Hamburg wieder offen.

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Stefan Reinecke
Korrespondent Parlamentsbüro
Stefan Reinecke arbeitet im Parlamentsbüro der taz mit den Schwerpunkten SPD und Linkspartei.
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2 Kommentare

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  • WH
    Wolfgang Hanspach

    mann tut mir dieser Kommentar gut. (Ich bin kein Mitglied, kein Fan von irgendeiner Person) Die Wahrnehmung des Unentschiedenen als Offenheit. Und damit die Freiheit nachzudenken über alternativen. Nachdem Abgesang von M Horx auf das ende der alternativen (gemeint waren Menschen) jetzt die Chance auf Alternativen (nicht unbedingt die Alternativen). Ich sage das als jemand der eigentlichen guten willen gegenüber der TINA-Politik gezeigt hat und das auch wollte. Ich sagte zuweilen sogar: Seht was der Kohl nicht geschafft hat, die Sozis ziehen den Karren aus dem Dreck. Bis ich merkte, der Karren nimmt viele von uns ja gar nicht mit. Vielleicht ging es ja nur so: Die neuen Welttatsachen der Globalisierung mussten angeschaut werden, hereingenommenwerden. Nur glaube ich aus heutiger sicht bei - allen Bemühungen - der Schröder und seine Helfer hatten das Ohr zu nahe an der seite derer, die ein Unternehmen führen und immer wieder wenn auch diffus suggeriert haben, letztendlich könnten fast alle Arbeitskräfte -arbeiter wie Ingenieure- durch chinesen und Inder ersetzt werden.Das kann schon ein mulmiges gefühl hervorrufen wenn nicht gar angst.

     

    Jetzt stehen Fragen an wie: könnte es eine soziale Weltmarktwirtschaft geben?

     

    Es sollte jetzt ausgeforscht, ausgeleuchtet werden, wie und mit welcher Politik ist mehr ausgleich, mehr gerechtigkeit, mehr Frieden möglich. Müssen wir so reich sein, wie wir werden wollen? Ohne arm zu werden. Und vieles mehr. Ich behaupte mal mit Franz Alt "antworten sind möglich"

    Wolfgang

  • NS
    Norbert schubert

    sehr geehrter Herr Reinecke,

    nachdem ich die "taz" in letzter Zeit einige Male kritisiert habe(Pro Agenda 2010 von Fr. Kouven, möchte ich Ihnen zu Ihrem Artikel gratulieren. Er hebt sich so wohltuend von dem "neoliberalen Gequatsche" in anderen Zeitungen ab!

    Es ist schon sehr blöde, gegen die eigenen Leute Politik zu machen. Und dann die den Weg kritisieren, genauso zu beschimpfen wie es einem selber widerfuhr, nur aus konservativer Ecke.

    Liebe Grüße Norbert Schubert