Elfter Platz beim Lesetest: Kleine ganz groß
Anlässlich der Verbesserung im Vergleich zu Pisa herrscht Euphorie unter Politikern. Doch die soziale Ungerechtigkeit ist nach wie vor ungelöst.
Die Kleinen sind die Größten. Deutschland gehört mit seinen Zehnjährigen zu den Ländern, die ihre Lesekompetenzen deutlich verbessert haben. Bei der Internationalen Grundschul-Leseuntersuchung, kurz Iglu, liegen sie mit 548 weit über dem Durchschnitt von 500 Punkten. Damit kommen sie unter teilnehmenden 40 Staaten und fünf Regionen auf Platz 11. Beim letzten Pisa-Test waren die deutschen Sekundarschüler noch unter dem Mittelwert geblieben (491 Punkte).
Entsprechend euphorisch fielen die Reaktionen aus. "Das ist eine Ermutigung für alle, die in der tiefgreifendsten Bildungsreform seit Jahrzehnten stecken", sagte Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU). Sie war wegen des positiven Ergebnisses kurzfristig vor die Presse gegangen, um selbst die frohe Botschaft zu überbringen. Der Leiter des deutschen Teils der Studie, Wilfried Bos, sagte, "die Grundschule hat ihre Hausaufgaben gemacht. Sie ist die modernste Schulform in Deutschland, die sich seit 15 Jahren kontinuierlich verbessert."
Besonders erfreulich ist, dass Deutschland es als einer der wenigen Staaten geschafft hat, auch die Zahl der sogenannten Risikoschüler zu verringern. Bei Iglu 2001 verstanden über 16 Prozent der Zehnjährigen die Texte nicht - diesmal waren es nur noch 13 Prozent.
Ist der Pisa-Schock nun Geschichte? Was den Tabellenplatz angeht: ja. Mit Blick auf die sozialen Verwerfungen, die das Schulsystem produziert, eindeutig: nein. Kinder aus sozial schwachen Schichten ("untere Dienstklasse") haben deutliche Rückstände bei der Lesekompetenz im Vergleich zu Akademikerkindern. Im Blick auf die sogenannten Übergangsempfehlungen hat sich die Lage sogar verschlechtert - insbesondere die Kinder un- und angelernter Arbeiter müssen enorme Leistungen erbringen, um aufs Gymnasium zu kommen.
In Zahlen: Kindern aus der "oberen Dienstklasse" (Akademiker, Gutverdiener) reicht ein Wert von 537 Iglu-Punkten, um von Lehrern in Richtung Abitur geschickt zu werden. Arbeiterkinder dagegen müssen famose 614 Punkte erringen, ehe Lehrer ihnen den Erfolg im Gymnasium zutrauen.
Auch ein anderer Wert zeigt, dass das akute durch Pisa aufgedeckte Problem der deutschen Schule, ihre soziale Ungerechtigkeit, nach wie vor ungelöst ist: "Bei gleichen kognitiven Fähigkeiten", heißt es in der Studie, "haben Kinder von Eltern aus der oberen Dienstklasse eine mehr als zweieinhalbmal so große Chance, von ihren Lehrern eine Gymnasialpräferenz zu erhalten als Kinder von Facharbeitern."
Der baden-württembergische Kultusminister Helmut Rau (CDU) sagte der taz, er werde die Übergänge von der Grund- auf die Sekundarschulen auf den Prüfstand stellen. Ein so großer Unterschied bei der Gymnasialempfehlung ist "nicht gerechtfertigt".
Dennoch bringt Iglu außergewöhnliche Ergebnisse für die Grundschule. So schneiden in allen untersuchten Ländern die Mädchen besser ab als die Jungen. In Deutschland haben sich die Jungen aber stark verbessert und um 11 Punkte zugelegt.
Auch die Eltern haben aus Pisa gelernt. Die deutschen Eltern kümmern sich stärker als bei der Untersuchung im Jahr 2001 darum, dass die Kinder bereits vor der Schule erste Leseerfahrungen sammeln. 57 Prozent der Eltern lesen ihren Kleinen häufig Bücher vor, erzählen ihnen Geschichten, singen Lieder oder spielen Buchstabenspiele, bevor sie in die Schule kommen - 13 Prozent mehr als noch vor sechs Jahren, ein Zuwachs wie in keinem anderen Land.
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