Berliner Jugendliche specken ab: Der Kampf der Pfundskinder
Drei Mal die Woche Sport, Ernährungsberatung und ärztliche Kontrolle - so will ein Berliner Modellprojekt Kindern und Jugendlichen beim Abnehmen helfen. Die Bilanz ist durchwachsen.
Ein Jahr und eine kaputte Ehe später, steht der Vater von Tobias* zwischen lauter Umzugskartons im Wohnungsflur und sagt ins Telefon: Ich esse keine Wurst mehr zum Frühstück. 30 Kilo hat er abgenommen innerhalb eines Jahres. Und ein solcher Gewichtsverlust sei ja schon mal ein Riesenerfolg für das Projekt, findet er. Tobias' Vater hat sein Leben neu geordnet. Dann ruft er seinen Sohn ans Telefon.
Das Berliner Projekt Pfundskinder richtet sich an übergewichtige Kinder im Alter von 9 bis
15 Jahren. Die sechs TeilnehmerInnen der Gruppe und ihre Eltern erwartet ein intensives Programm mit zwei bis drei Terminen pro Woche: Sport, Wassergymnastik, psychosoziale Schulung, Ernährungsberatung oder Untersuchungen bei Fachärzten. Danach folgt ein Jahr Nachbetreuung. Ziel ist - neben Gewichtsreduktion und Gewichtsstabilisierung - die dauerhafte Veränderung des Ernährungs- und Bewegungsverhaltens von Jugendlichen und Eltern, sagt Kerstin Funk, die Leiterin des Programms. Nur so könnten Folgeerkrankungen der Adipositas dauerhaft vermieden werden. Gefördert wird das Projekt von der Jugend- und Familienstiftung des Landes Berlin sowie von "Aktion Mensch". Teilnehmer müssen zwischen 10 und 25 Euro pro Monat zahlen. Irgendwann sollen die Krankenkassen das Projekt bezahlen, wünscht sich Funk.
Es gab eine Zeit, da hing der 13-jährige Tobias aus Berlin-Kreuzberg jeden Nachmittag vorm Computer und spielte World of Warcraft. Man kann also sagen, er war ein ziemlich gewöhnlicher deutscher Teenager. Wenn Tobias in seinem dunklen Zimmer Hunger bekam, stopfte er sich ein paar Chips rein. Wenn er etwas anderes wollte, machte er sich auf zum Supermarktbäcker. Er war ein bisschen träge und ein bisschen dick. In Sport hatte er eine vier. Und es sah nicht so aus, als würde sich daran so schnell etwas ändern.
Dann fing Tobias im letzten Jahr bei den Pfundskindern an, einem Projekt für übergewichtige Kinder, Jugendliche und deren Eltern. Weil seine Mutter das so wollte, und weil Tobias ein ruhiger Sohn ist - keiner, der die Widerstände sucht.
Tobias begann, mit zwei Mädchen und drei anderen Jungs das ganze Programm zu durchlaufen. Sie waren die ersten, die bei diesem Modellprojekt mitmachten, einer Kombination aus Sport, psychosozialer Schulung, Ernährungsberatung und ärztlicher Kontrolle, zwei bis drei Termine jede Woche: Tobias stellte sich auf die Laufbänder im Fitnessstudio und lies seichte Musik aus Deckenlautsprechern auf sich herunterregnen. Er hörte sich die Essregeln der gemütlichen Frau aus dem Bezirksamt an. Er machte bei der Wassergymnastik mit, die jeden zweiten Freitag in einem weiten kahlen Becken stattfand. Er nahm ein paar Pfund ab, nicht viel.
Sein schlaksiger Sozialtherapeut, zu dem er immer mit der U-Bahn fuhr, erklärte Tobias, dass Körperfett manchen Menschen als Panzer dient. Ein anderes Mal bastelten sie zusammen aus Zeitschriftenschnipseln eine Ernährungspyramide für das Pfundskinder-Sommerfest. Die älteren aus der Gruppe gaben grinsend mit ihren Ferienliebschaften an, und Tobias klebte Abbildungen von Gurken und Tomaten auf ein Stück Pappe. Er rechnete aus, wieviel Zuckerwürfel in einem Glas Marmelade stecken, und stellte sich beim Arzt auf die Waage. Am Ende des Jahres gab es noch eine Weihnachtsfeier. Da drängelten sie sich alle gemeinsam in die schmale Küche des Pfundskinder-Büros um den Backofen herum und versuchten, möglichst Fett- und Zuckerfreie Kekse zu fabrizieren. Eine laute Ausgelassenheit flog durch den Raum. Tobias' Vater war da schon ziemlich dünn geworden.
Das ist alles schon eine Weile her, die Gruppe trifft sich inzwischen nur noch zur Nachbetreuung alle paar Monate. Heute erzählt Tobias von der Drei im Zeugnis in Sport, und dass er morgens nicht mehr den Bus zur Schule nimmt, sondern mit dem Rad fährt. Außerdem spiele er neuerdings nachmittags immer Fußball mit Freunden im Park.
Fußball und Frühstück ohne Wurst sind keine Sensationsdiät, aber vielleicht so etwas wie ein Anfang. Sie sind das, was die Projektleiterin der Pfundskinder, die Diplompädagogin Kerstin Funk fordert: eine Lebensstilveränderung bei den Jugendlichen und Eltern. Das klingt sehr schön und auch sehr einfach.
Tatsächlich ist es eine ziemlich schwierige Angelegenheit: Die meisten haben als dicke Kleinkinder angefangen - und sind das Problem seither nie losgeworden. Die Eltern haben Diäten ausprobiert, Schokolade verboten, die Mutter des 14-jährigen Oliver hatte einmal sogar für mehrere Wochen einen Ernährungscoach engagiert - es halft nichts. Das Pfundskinder-Programm ist nur das neueste Experiment im lange anhaltenden Kampf gegen das Übergewicht.
Und die Sache ist mühsam:
An einem warmen Freitag im Juni steht die Sportwissenschaftlerin Silke Hanefeld in der schlechten Luft des Fitnessstudios und stellt fest: Alles, was unbequem ist, versuchen die Jugendlichen zu umgehen. Sie sagt das, weil an diesem Tag wieder nur zwei Jungs erschienen sind. Fast nie passiert es, dass alle aus der Gruppe da sind. Besonders wenn Sport dran ist. Eine Mutter hat ihre Tochter wegen Bauchschmerzen entschuldigt, ein Mädchen sagte per Handy-Anruf ab: Das Taxi, das sie bringen sollte, sei abgesoffen. Wo die anderen zwei stecken, weiß keiner.
Das Projekt dauert zu diesem Zeitpunkt schon fast ein halbes Jahr. Silke Hanefeld schaut gegen die gelb gestrichene Wand des Fitnessstudios und knurrt den düsteren Satz: Es ist noch keine richtige Entwicklung sichtbar.
Auch wenn das Pfundskinder-Programm Experten als Musterprojekt gilt wegen der vielen regelmäßigen Treffen, wegen der Verknüpfung von Bewegung, psychosozialer Betreuung und Ernährungslehre, wegen der Miteinbeziehung der Eltern - es gibt doch häufig Rückschläge: Zum Beispiel als die Sportwissenschaftlerin Hanefeld beim Gruppenausflug drei Teilnehmer erwischt, die sich an der Tankstelle mit Bergen von Süßigkeiten für die Busfahrt eindecken. Oder die vielen Male, wo Hanefeld mit einem einzigen Teilnehmer in der leeren Turnhalle vergeblich auf die anderen wartet. Oder den Termin, als Karims Mutter erzählt: Mein Sohn stopft sich voll, er kann einfach nicht alleine aufhören mit dem Essen. Und das sind dann die Momente, in denen die Begeisterung für die gute Sache doch sehr ausgeknipst scheint.
Das sind die Momente, wo Projektleiterin Funk mal wieder mit den Eltern reden muss.
An einem Mittwoch sitzen dann zum Beispiel vier schlecht gelaunte Mütter mit der Projektleiterin in einem schmucklosen Raum in Berlin-Mitte. Die Unzufriedenheit hängt über den Frauen wie grauer Klebstoff. Es sind Mütter, die in Krankenhäusern und Call-Centern Schichten schieben, sie können sich keine lange Ursachenforschung leisten, sie haben zu viel zu tun. Bei manchen ist der Mann weg, zu Hause wartet nur die mit Postern behängte, geschlossene Zimmertür eines pubertierenden Teenagers. Es sind Mütter, die zur Begrüßung sagen: Heute sind bei uns wieder die Fetzen geflogen.
Und nachdem Kerstin Funk erneut die regelmäßige Teilnahme angemahnt hat, schimpft Olivers Mutter dann auch gleich los: Die ganze psychische Schiene hier in dem Projekt liegt uns nicht. Weil wir diese Probleme nicht haben. Oliver hat auf keinen Fall eine Essstörung.
Die Projektleiterin lächelt schief. Sie hat es schon oft erklärt, sie erklärt es noch einmal: Sobald Essen genutzt wird, um irgendetwas zu kompensieren und nicht nur um satt zu werden, läuft was falsch. Dann ist das kein richtiger Umgang mit dem Essen. Die aufgescheuchte Mutter guckt böse. Manchmal wirkt es, als hätten sich die Mütter vom Trotz ihrer Teenager anstecken lassen.
Überhaupt die Eltern. Es gibt bei den Pfundskindern Eltern, die sich Fitnessgeräte in die Wohnung stellen und ihre eigene Ernährung umstellen wie der Vater von Tobias und die Mutter von Karim. Es gibt Familien, die wochenlang keine Mahlzeit gemeinsam verbringen, Familien, die nur einmal die Woche Obst essen. Eltern, die die Verpflegung ihrer Kinder ganz den Imbissbuden und Süßwarenherstellern überlassen. Und die Mutter, die, nachdem die Ernährungsberaterin gerade Kalorientabellen aufgemalt hat, immer noch darauf besteht, zum Pfundskinder-Sommerfest einen Kartoffelsalat mit Majonaise mitzubringen.
Wenn die Eltern nicht mitziehen, funktioniert es nicht!, glaubt Projektleiterin Funk. Sie sitzt mit einer frisch aufgebrühten Tasse Kaffee an einem Holztisch im Pfundskinder Büro und hat die Unterlagen vor sich. Kerstin Funk ist Pädagogin von Beruf, sie kennt sich aus mit Problemfällen, mit renitenten Eltern und schwierigen Kindern. Aus einem schmale Regal mit Ordnern voller Studien zieht sie die Berichte des Arztes und der Sportwissenschaftlerin heraus, sie sind ziemlich alarmierend:
Als der begleitende Arzt und die Sportwissenschaftlerin zu Beginn des Projekts die sechs Kinder und Jugendlichen untersuchten, stellten sie fest: Die Gefahr bestand, dass sie ihr Übergewicht bis ins Erwachsenenalter behalten würden. Alle Pfundskinder kamen bei der geringsten Anstrengung aus der Puste, hatten kaum Kondition, taten sich schwer mit der Koordination ihrer Bewegungen und litten unter Herzklopfen sowie Schweißausbrüchen. Es geht um Kinder und Jugendliche zwischen 9 und 15 Jahren. Unbedingter Handlungsbedarf bestehe, ruft Funk und zieht die Augenbrauen bedrohlich nach oben.
Im Dezember waren die meisten von ihnen noch einmal beim Arzt. Tobias hat nicht viel Gewicht verloren, aber er konnte seinen Body-Mass-Index (BMI) immerhin halten, was schon ziemlich gut sei, wie der Arzt sagt. Schließlich ist Tobias noch im Wachstum. Bei den anderen war das Ergebnis ähnlich. Oliver und Filiz konnten ihren BMI sogar reduzieren. Der Arzt und Frau Funk waren zufrieden. Es ist ein Erfolg, der alle Schwierigkeiten in ein milderes Licht taucht.
Nicht bei allen ist es allerdings gut gelaufen. Sie sind sechs übergewichtige Jugendliche - aber jeder trägt sein Gewicht für sich allein. Bei der 15-jährigen Ayla haben alle Tipps der Ernährungsberaterin, alle Hinweise auf verstecke Fette und leere Kalorien, alle Federballspiele in der Turnhalle mit Silke Hanefeld nicht funktioniert. Es ist die alte Geschichte von der eigenen Unzulänglichkeit, das tückische Dilemma des falschen Handelns trotz besseren Wissens. Ayla hat nicht abgenommen. Deshalb wollte sie auch nicht zum Arzt. Vielleicht wiegt sie jetzt sogar noch mehr als zu Beginn des Projekts.
Wenn man Ayla anruft, meldet sich eine traurige Stimme am Telefon, die sagt: Ich weiß zwar theoretisch, wie das geht mit dem Abnehmen, aber irgendwie kann ich es nicht umsetzen. Mir fehlt der Kick dazu. Momentan bin ich sowieso in einer depressiven Phase. Und für eine angespannte kurze Weile hängt das ganze Unglück eines dicken Teenagers in der Telefonleitung.
* alle Namen der Kinder und Jugendlichen geändert
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