piwik no script img

Über das Gefühl Scham"Bitte frei machen"

Es ist ein mächtiges Gefühl, das jeder kennt: die Scham. Aber warum wird diese Emotion versteckt? Warum ist die Scham peinlich?

Wie geht das gleich, im Boden versinken? Bild: dpa

Das erzählt eigentlich niemand gerne. Von der Scham, die aus tiefster Seele rührt, die nicht aufgerufen und nicht benannt werden will. Vom Schämen zu reden heißt, sich zu demütigen. Das empfindet Frank [Namen der Betroffenen von der Redaktion geändert] ganz deutlich, als er von der Darmspiegelung spricht. Er hatte sich an diesem Tag gewaschen. Mehrmals. Ganz sauber wollte er sein. Die Untersuchung, die ihm bevorstand, machte ihn beklommen. Er hatte keine Ahnung, was genau geschehen würde. Aber eins war klar: Frank musste sich ausziehen, seinen Unterleib nackt präsentieren. Daliegen, den Blicken Fremder ausgesetzt sein und sich befummeln lassen. "Wahrscheinlich ist das anderen auch peinlich", sagte er, als es so weit war und er mit hochrotem Kopf, Herzklopfen und trockenem Mund, nur in T-Shirt und Socken vor dem Arzt und seiner Assistentin stand. "Äh nö", war die knappe Antwort, die ihn in seinen Augen vollends zum Depp degradierte.

WAS IST SCHAM?

Scham ist das am meisten tabuisierte Gefühl, obwohl es, wie der Ethnologe Hans Duerr meint, zum menschlichen Wesen dazugehört - ungeachtet kultureller und historischer Unterschiede. Für den 1990 verstorbenen Soziologen Norbert Elias indes ist Scham ein Produkt der Sozialisation, eine Folge der Angst vor der sozialen Degradierung oder der Überlegenheit anderer. Die ungarische Philosophin Agnes Heller nennt Scham den "gesellschaftlichen Affekt par excellence", dessen Ursache in der Abweichung von gesellschaftlichen Vorschriften liege. Für den Philosophen Helmuth Plessner ist Scham ein Wertgefühl. Sie zeige die Empfindung an, im eigenen Wertbewusstsein herabgedrückt oder bedroht zu sein.

"Wer sich schämt, will in den Boden versinken, sich den Blicken der anderen entziehen. Scham ist eine sehr schmerzhafte Emotion", hieß es auf der Einladung zu einer Tagung der Caritas-Akademie für Gesundheits- und Sozialberufe in Freiburg mit dem Titel "Sie dürfen sich schon mal frei machen". Zwei Tage lang sollten sich Ärzte, Pflegefachkräfte und Studierende mit dem Schamgefühl in Medizin und Pflege auseinandersetzen. Rund 3.000 Einladungen wurden verschickt, auf Kongressen und Tagungen rund weitere 2.000 potenziell Interessierte informiert. Aber kommen wollten nur neun Personen. Die Tagung wurde abgesagt. Kein Bedarf? Vielleicht hat der Arzt ja gar keine professionelle Deformation an den Tag gelegt, indem er das Schamgefühl seines Patienten forsch ignorierte. Vielleicht ist Scham in modernen Gesellschaften ein aussterbendes Phänomen?

Nein, das ist sie nicht, sagt der Freiburger Sozialwissenschaftler Stephan Marks. Im Vorwort zu seinem gerade veröffentlichten Buch über "Scham - die tabuisierte Emotion", zitiert er den Psychologen Michael Lewis, der glaubt, dass "das artspezifische Gefühl Scham für unser Leben zentral ist. Scham bestimmt unsere seelische Gestimmtheit mehr als Sex oder Aggression. Scham ist überall."

Ein Stuttgarter Kardiologe glaubt sich zumindest in den Anfangszeiten seiner Berufstätigkeit manchmal geniert zu haben - wenn er, mit Anzug, Krawatte und weißem Kittel angezogen, Patienten gegenüberstand, die sich entkleidet hatten. Weshalb genau, darüber hat er nicht weiter nachgedacht. Er hatte es schnell im Griff. Musste ja schließlich auch. Wie sonst sollte er täglich mit den Patienten professionell umgehen. Dass es für diese nicht immer einfach ist, registriert er wohl. Er helfe ihnen dabei, mache vielleicht noch einen Vorhang zu, eine Tür, spreche leiser. Manchmal auch davon, dass es für die meisten ungewohnt sei, sich hier auszuziehen. Er versuche, die Bloßstellung an die Untersuchungsräume zu binden, ein gemeinsames Einverständnis herzustellen, um dann eine vertrauensvolle Mitarbeit auf Augenhöhe anzubieten. Das funktioniere bei deutschen Patienten fast immer. Es gibt aber Migrantinnen, die besonders schüchtern reagieren und sich nur mit Begleitung untersuchen lassen.

Besonders für ältere Menschen ist Nacktheit oft nicht selbstverständlich. Und sie fühlen ihren Körper im Spiegelbild der allgegenwärtig propagierten Perfektion makelloser Jugend entwertet. Das hat der Züricher Arzt und Philosoph Andreas Maercker auf den 57. Lindauer Psychotherapiewochen 2007 ausführlich erörtert. Und so verwundert es nicht, dass alte Menschen gegenüber jungen Pflegepersonen größere Hemmungen haben als junge Menschen, die in der Pflege von Älteren versorgt werden. Die Älteren vermuten, dass die Jüngeren sich vor dem Umgang mit ihnen ekeln. Und manchmal wird ihnen tatsächlich auch mit Ekel oder jugendlicher Arroganz begegnet, die ihre Gefühle ignoriert bis tabuisiert.

Marianne hat das noch allzu gut in Erinnerung. Die ehemalige Lehrerin glitt mit 38 Jahren bei einem Schulausflug auf dem winterlichen Schauinsland im Schwarzwald auf Eis aus und schlug auf einer Steinkante auf. Seit dieser Zeit ist sie querschnittgelähmt, braucht täglich Hilfe auch bei allen intimen Verrichtungen. Es hat sie große Anstrengungen gekostet, die Pflegedienste davon zu überzeugen, dass sie die für sie unangemessene Nähe von Männern und schon gar jungen Zivildienstleistenden, die sie täglich wuschen oder die Monatsbinden wechselten, nicht "verdrängen" könne. Unverständnis und Gleichgültigkeit, die ihr in der Anfangszeit ihrer Krankheit das Leben so schwer gemacht hatten, waren wohl selbst Ausdruck einer Verdrängung, die den ökonomisch optimierten Abläufen der Trägerinstitutionen zu verdanken sind.

Das erfährt auch der Pflegedienstleiter in einem Hospiz für Aidskranke in Oberharmersbach immer wieder. Vor allem wenn neue Bewohner im Haus ankommen, die von einer unzureichenden Pflege berichten, die sie zuvor genossen hatten. Er weiß, dass in vielen Institutionen über Schamgefühle kaum gesprochen wird, geschweige denn, dass sich die Pflegenden ihrer eigenen Gefühle der Scham in Verbindung mit der Sauberkeitserziehung, den Sexual- und Ausscheidungsorganen bewusst wären oder sie in der Ausbildung thematisiert würden: Scham über Gerüche, Geräusche, Fäkalien, nasse Windeln, Körpermakel aller Art, darüber, was der andere denken mag, wie er urteilen wird. In Oberharmersbach, wo auch viele junge Menschen auf ihren Tod warten, bemüht man sich, ihnen die Zeit bis dahin lebenswert zu gestalten. Vor allem heißt das, sagt der Pflegedienstleiter, beschämende Situationen, so gut es geht, zu vermeiden und den Bewohnern mit großer Achtsamkeit zu begegnen. Wesentlich ist für ihn die gleichgeschlechtliche Pflege. Und sie soll von Zuwendung, Achtung und Respekt vor den Menschen geprägt sein. Das wird dort immer wieder thematisiert, auch in den Seminaren und Fortbildungskursen.

Auch die Scham wegen der Vorstellung, eine Krankheit selbst verschuldet zu haben, ist selten ein Thema unter Medizinern und Angehörigen der Pflegeberufe. Das führt, wie ein Freiburger Gynäkologe erzählt, zu einer Belastung des Arzt-Patient-Verhältnisses. Denn daraus entstehendes Verschweigen kann die Diagnose verfälschen. Genauso wie religiöse Vorstellungen von Ehre, die er bei Frauen aus muslimischen Kulturen kennt, oder die von Sünde und Beflecktsein streng christlich Erzogener. Er versucht durch ein einfühlsames Gespräch über die Situation der Patientin und seine medizinische Arbeit Vertrauen zu schaffen und plant genügend Zeit für Fragen ein. Das ist so ziemlich genau das Gegenteil dessen, wie manch andere ihren Patientinnen begegnen. "So, dann machen wir mal schön die Beine breit", hatte einer seiner Zunft zu Ulrike gesagt, die im Wartezimmer sitzt. Ganz unmöglich findet sie diese distanz- und respektlose Art. Hier dagegen gebe es kein falsches Wir, kein forsches Auftreten. Angenehme Versachlichung präge die Atmosphäre.

"Abwesenheit von Scham ist ein sicheres Zeichen von Schwachsinn", sagte einst Sigmund Freud. Was aber, wenn sich Schamgefühle verselbstständigen? Wenn sich Gefühle der Scham mit Gefühlen der Angst fest verbinden? Man bei jeder Gelegenheit rot wird, sich verkriechen, in Luft auflösen will? Dann können sie sich auch in der Maske der Wut und des Zornes äußern. Dem Pflegedienstleiter ist das nicht unbekannt. Gerade junge Aidskranke neigten dazu, Schuldgefühle zu entwickeln, die in Protest münden. Oder aber auch nicht das besondere Bedürfnis nach zärtlicher Zuwendung und Intimität, was für junge und alte Menschen gleichermaßen gilt, wie Maercker aus seinen psychotherapeutischen Gesprächen weiß. Heikel sei das, meint der Pflegedienstleiter, und dennoch müsse versucht werden, diesem urmenschlichen Verlangen Raum zu geben, ohne zugleich eine sexuelle Annäherung zuzulassen. Nichterotische Massagen mit ätherischen Ölen haben hier, wie er sagt, Wunder bewirkt.

Stephan Marks zählt noch andere Formen der Maskierung von Scham auf, die medizinischem oder pflegendem Personal meist unbekannt sein dürften: sich einigeln, emotionale Erstarrung, Projektion, Verachtung, Zynismus, Arroganz, Neid, Ressentiment, Größenfantasien, Idealisierung, Perfektionismus oder Sucht. Und auch Schamlosigkeit kann ihm zufolge eine solche Maske sein. Verständnis statt Abwehr in dem Wissen darum kann den Umgang mit Menschen in den entsprechenden Situationen erheblich erleichtern. Genau das, so der Pflegedienstleiter, ist für medizinisches und Pflegepersonal eigentlich unverzichtbar: der Bedürftigkeit und der Abhängigkeit von Patienten zumindest einen Rahmen zu geben, der von menschlicher Wertschätzung geprägt ist.

Wie dies gelingen kann, darüber hätte man bei der abgesagten Tagung reden können.

Literatur zum Thema: Stephan Marks, "Scham, die tabuisierte Emotion". Patmos 2007, 227 Seiten, 19,90 Euro

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!