piwik no script img

Einfach mal nichts

RUHE „Stressbewältigung durch Achtsamkeit“ hilft, gelassener mit negativen Gefühlen oder mit sinnlosen Grübeleien umzugehen

Kurse & Literatur

■ Kurse von zertifizierten Lehrern in „Mindfullness-Based Stress Reduction“ (Stressbewältigung durch Achtsamkeit) findet man – sortiert nach Postleitzahlen – unter www.mbsr-verband.org

■ Die Kosten liegen zwischen 250 und 400 Euro (inklusive Übungs-CD und -materialien). Manche Kassen übernehmen auf Anfrage einen Teil der Kosten. Als Stressbewältigung sind die Kurse steuerlich absetzbar.

■ Literatur: Linda Lehrhaupt, Petra Meibert: „Stress bewältigen mit Achtsamkeit: Zu innerer Ruhe kommen durch MBRS“. Kösel, 2010, 16,95 Euro. (vm)

VON VERENA MÖRATH

„Es gibt nichts zu tun und nichts zu erreichen“, sagt eine beruhigende Stimme. Pause. Stille. „Der Einkauf, die Wäsche, Termin Zahnarzt, Gespräch mit dem Chef, übermorgen Dienstreise, Konto wieder im Minus!“, meint das Ich trotzig. „Nun wende deine Aufmerksamkeit auf die Zehen deines linken Fußes. Vielleicht gibt es Empfindungen wie Jucken oder Kribbeln, Wärme oder Kühle …“, unterbricht die Stimme das Sorgengewitter und lenkt für die nächsten 30 Minuten mittels einer geführten Meditation die Aufmerksamkeit des grübelnden Menschen durch seinen ganzen Körper und auf seine Atmung.

Dieser „Body-Scan“ ist ein wichtiges Element der „Stressbewältigung durch Achtsamkeit (engl. Mindfulness-Based Stress Reduction/MBSR). Ein Antistressprogramm und Achtsamkeitstraining mit dem Ziel, besser und gelassener mit Stress auslösenden Situationen, mit negativen Gefühlen und Ängsten oder mit sinnlosen Grübeleien umzugehen. Es gilt, sich wohlwollend zu beobachten, anzunehmen und nichts verändern zu müssen. „Achtsamkeit ist ein Training des Geistes“, erklärt Günter Hudasch, MBSR-Lehrer, Coach und Organisationsberater in Berlin. MBSR befähige Menschen, sich besser zu konzentrieren, zu entspannen und zur Ruhe zu kommen. Durch Meditation, Körperwahrnehmung und Yoga.

Diese Methode wurde schon vor über 20 Jahren von dem US-Medizinprofessor Jon Kabat-Zinn an der Universitätsklinik von Massachusetts als wirkungsvolle Selbsthilfemethode entwickelt. „Die Wurzeln liegen in der buddhistischen Meditation“, so Hudasch, „aber das Programm ist losgelöst von jeder Religion. Es wurde sozusagen verweltlicht.“ Vom ersten Tag an sei die Wirksamkeit von Achtsamkeitstrainings wissenschaftlich untersucht worden. Bis zu 300 Studien jährlich würden heute die positive Wirkung von MBSR in unterschiedlichen Gesundheitsbereichen, in pädagogischen und sozialen Einrichtungen ebenso wie in Unternehmen erforschen.

Das Interesse an alltagstauglichen Hilfen gegen Stress ist berechtigt. „Wir sind heute auf ständige Bereitschaft programmiert. Für viele Menschen wird diese beschleunigte Lebens- und Arbeitswelt zu einer nicht endenden Belastung, zu einem Dauerstress“, urteilt Hudasch. Dieses Stresssystem befördere einen Tunnelblick, der es vielen unmöglich mache, ungesunde Verhaltensmuster und Reaktionen zu überprüfen und zu ändern. „Meditation weitet wieder den eigenen Horizont. Achtsam zu sein heißt, sich und seine Umwelt, seine Situation wertfrei wahr- und anzunehmen, sich zu konzentrieren und zu sammeln, um sich in Ruhe seinen Ängsten, Belastungen oder Schmerzen zuzuwenden.“

Dies erfordert aber Training. Und das dauerhaft. Ein ratsamer Einstieg ist ein achtwöchiger MBRS-Kurs: Hier werden in Gruppen von sechs bis zwölf Teilnehmenden die Meditationstechniken erklärt, erlernt und geübt. Auch die Bedeutung von Stress und Kommunikationsmustern im Alltag werden in Vorträgen und Diskussionen behandelt. „Ganz wichtig ist das tägliche Üben“, sagt Coach Hudasch. Acht Wochen bräuchte das Gehirn erfahrungsgemäß, um sich neu zu strukturieren und umzuorientieren.

Das Gute ist: Auch nach einem Kurs lassen sich die Übungen für Achtsamkeit überall und jederzeit in den Alltag integrieren. Zum Beispiel morgens unter der Dusche: Anstatt das Kopfkino und die Tagesplanung zu starten, erspüren, wie sich das warme Wasser auf der Haut anfühlt, lauschen, wie es an die Duschwand prasselt. Nicht den Aufzug rufen, sondern bewusst die Treppe zur Arbeit nehmen, innehalten und durchatmen … Im Hier und Jetzt ankommen, nicht immer nur rasen. „Die Zahl der Teilnehmer, die abbrechen, ist minimal“, freut sich Günter Hudasch. Die meisten würden schnell eine Erleichterung spüren und ihr Leben anders ausrichten.

Wir sind gewohnt, ständig in Bereitschaft sein zu müssen, das belastet

Diese Erfahrung teilt auch Anna Lange (Name von der Redaktion geändert), die bei Günter Hudasch vor sieben Jahren ihren ersten MBSR-Kurs wahrgenommen hat. Sie arbeitete im Schichtdienst als Redakteurin und fand überhaupt nicht mehr in den Schlaf. Sie recherchierte, um für sich eine Lösung zu finden, und stieß dabei auf MBSR und Günter Hudasch. „Mir hat von Anfang an gefallen, dass der Kurs gar nichts Esoterisches hatte. Keine Klangschalen und kein Dogma“, erzählt die Journalistin.

Ein erstes Aha-Erlebnis, dass ihr mehr Achtsamkeit durch Meditation helfen konnte, hatte sie schon während des ersten Kurses. „Ich kam mit einer vollen Einkaufstüte aus dem Laden und war wie so oft in Hektik. Dann riss die Tüte, und der Einkauf lag schön verstreut auf dem Bürgersteig.“ Normalerweise hätte sie wie eine Rakete in die Luft gehen können. „Aber ich hielt inne, konnte sagen, dass das Malheur nun einmal passiert ist und ich es nicht ungeschehen machen kann. Wozu sich aufregen? Dies gelingt mir in schwierigen Situationen nun viel häufiger.“ Einzuschlafen geht auch besser.

Nicht täglich findet Anna Lange die Zeit für ihren „Body-Scan“ oder eine 12-Minuten-Meditation. „Aber es gibt die „3-Minuten-Räume“, in denen man sich kurz zurückzieht und in sich geht. Das geht auch auf der Toilette“, erzählt sie. Manchmal frischt sie ihre Achtsamkeit bei Günter Hudasch auf. Acht Monate lang geht sie einmal im Monat zu ihm. „Auch wenn es nicht gerade billig ist, es ist für mich die ideale Form, mir etwas Gutes zu tun.“ Günter Hudasch, studierter Biologe, fand selbst erst zu MBSR, als ihn ein Job in der Berliner Verwaltung über die Maßen aufrieb. Den Job hat er längst aufgegeben. Schon 2003 machte er seine Ausbildung zum MBSR-Lehrer und gründete 2005 den MBSR-Verband. Damals waren in Deutschland, in der Schweiz und Österreich nur 15 MBRS-Lehrer organisiert, heute sind es allein hierzulande schon 300. Nicht nur Privatpersonen wenden sich an ihn, er ist vor allem in Unternehmen unterwegs, für Führungskräfte wie Mitarbeitende. „Es gibt nichts zu tun und nichts zu erreichen.“ Pause. Stille.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen