Gewalt in der U-Bahn: Anarchie im Nahverkehr
Brutale Übergriffe im Nahverkehr häufen sich in letzter Zeit. Sind Busse und Bahnen rechtsfreie Räume, in denen jeder öffentlich zuschlagen kann?
Recht, das ist die Ordnung des menschlichen Zusammenlebens, deren Einhaltung durch staatlich organisierten Zwang garantiert wird - so lautet die herrschende juristische Meinung. Glaubt man diesen Worten, so sind die öffentlichen Verkehrsmittel ein rechtsfreies Vakuum, in dem frustrierte Menschen ihre Aggressionen ausleben. Ein Transportmittel, in dem die staatlich gewollte Friedfertigkeit belanglos erscheint. Wie sonst kann man die brutalen Übergriffe erklären, die sich in den vergangenen Tagen in den Berliner Bahnen und Bussen ereigneten. Drei Menschen wurden angegriffen und teils schwer verletzt, einer wurde absichtlich auf die Gleise gestoßen (siehe Kasten). Müssen wir nun vor jeder Bahn- und Busfahrt ein Testament aufsetzen, weil wir vielleicht nicht mehr lebend rauskommen?
Nach dem Angriff auf einen Rentner in der Münchner U-Bahn wird über fast jeden Vorfall berichtet. Hier eine kleine Auswahl der brutalsten: Frankfurt: In der Nacht zum 6. Januar prügelten drei Jugendliche einen U-Bahn-Fahrer krankenhausreif. Sie stehen seit gestern vor Gericht. München: Nach einem Streit um einen Sitzplatz am 13. Februar schlitzte ein Obdachloser einem Studenten die rechte Gesichtshälfte auf. Berlin: In der vergangenen Woche hatte ein Passagier einen Busfahrer während der Fahrt geschlagen. Am Samstagnachmittag war ein Fahrgast in einer U-Bahn von einem bislang Unbekannten bewusstlos getreten worden. In der Nacht zum Sonntag wurde ein Busfahrer durch einen Messerstich schwer verletzt. Auch am Sonntag hat eine Frau einen dunkelhäutigen Mann aufs Gleis gestoßen.
Gewalt nimmt nicht zu
Die Angst vor der öffentlichen Fahrt ist unberechtigt. Denn Gewalt in öffentlichen Verkehrsmitteln kommt nicht so häufig vor, wie es angesichts der Berichterstattung manchmal erscheint. In der Münchener U-Bahn kommt es zwar jeden zweiten Tag zu einem Übergriff, damit ist aber die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Gewalttat zu werden, mit 1 zu 1,9 Millionen sehr gering. In Hamburg wurden vergangenes Jahr 195 Angriffe in der Bahn registriert, nicht mehr als in den Jahren zuvor. Frankfurt verzeichnete 2007 "nur" 84 Schlägereien im Untergrund. Keine schönen Zahlen - aber auch kein Grund, um in öffentlichen Verkehrsmitteln eine schusssichere Weste zu tragen. Die Schauermeldungen aus Berlin sind Ausnahmen.
Eine gewisse Unruhe lässt sich nicht leugnen. Es entsteht der Eindruck, dass die öffentlichen Verkehrsmittel eine emotionale und intellektuelle Armutsregion sind. Im Dezember waren es zwei brutale Migranten und ein Rentner, die einen Kulturkampf an der hessischen Wahlurne auslösten. "Deutschland wird in der Münchner U-Bahn verteidigt, am Bahnhof Zoo in Berlin und in der Frankfurter Innenstadt", sagte der CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler und musste viel Kritik einstecken. Die Debatte um Jugendkriminalität kam ins Rollen, gewann an Fahrt und verpuffte. Der Kampf in den deutschen U-Bahn-Schächten aber scheint weiterzugehen.
Dabei sind öffentliche Verkehrsmittel eigentlich dazu da, um Menschen zu transportieren. Damit die Fahrgäste in aller Ruhe ihr Ziel erreichen - möglichst friedlich und unbeschadet. Jetzt aber scheint kein schnödes Ein- und Aussteigen mehr möglich. Die Bahn, ein Ort, an dem ein gesellschaftlicher Kampf ausbricht? Migranten gegen deutsche Rentner, Türken gegen Türken, glaubt man den Zeugenaussagen, und Deutsche gegen Ausländer - wie jetzt in Berlin geschehen. Alles in einem öffentlichen Raum, in der der staatlich verordnete Zwang zur Ordnung weggeprügelt wurde. Die Verkehrsmittel scheinen kein Ort für Drückeberger, sie erscheinen angesichts dieser Vorfälle eher eine neue Gefahrenzone zu sein.
Ordnung bleibt erhalten
Aber so ist es nicht. Denn seit dem Vorfall in der Münchener U-Bahn hat sich schlicht die öffentliche Wahrnehmung geändert. Die Zahlen belegen, dass die Gewalt im Verkehr nicht gestiegen ist. Es sind einzelne klotzbescheuerte Gewalttäter, die sich straßenkämpferhaft einen rechtsfreien Raum schaffen. Eine Minderheit, die das Recht nicht außer Kraft setzen kann. "Wahnsinn schafft kein Recht", sagte einst der französische Denker Jean-Jacques Rousseau.
Die Ordnung des menschlichen Zusammenlebens, deren Einhaltung durch staatlich organisierten Zwang garantiert wird, bleibt uns erhalten - auch im öffentlichen Raum. Die herrschende juristische Meinung muss nicht überdacht werden.
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