Kommentar Ägypten: Brothunger statt Kopftuchdebatten

Die neue Streikbewegung bedroht Mubaraks Machtkalkül. Mit Ausnahme der Muslimbrüder hat die Regierung bislang jede Opposition unterdrückt - nun regt sich eine dritte Kraft.

Die politische Lage in der arabischen Welt war bislang recht simpel: Auf der einen Seite ein autokratisches Regime, gerne auch vom Westen unterstützt, und auf der anderen eine islamistische Oppositionsbewegung. So hatten auch die Ägypter stets zwei Optionen: auf den Diktator hören oder auf die Prediger in der Moschee. Die meisten übten sich deshalb in politischer Gleichgültigkeit und widmeten sich dem täglichen Überlebenskampf.

Die weltweiten Preissteigerungen für Grundnahrungsmittel haben diesen Kampf verschärft. Vier von zehn Ägyptern müssen täglich mit etwas mehr als einem Euro auskommen: das ähnelt einer Art Mega-Hartz-IV-Gesellschaft am Nil. Mit Getreide-, Reis- und Fleischpreisen, die sich in den letzten Monaten vervielfacht haben, drohen dem Land nun Brotunruhen. Die Straßenschlachten in der Textilstadt Mahallah im Nildelta Anfang dieser Woche dürften nur ein Vorbote sein.

Die gute Nachricht: In Ägypten hat sich seit letztem Jahr eine Streikbewegung entwickelt, die weder von Mubarak noch von den islamistischen Moralaposteln etwas wissen will - die Leute verlangen nach Brot statt nach Kopftuchdebatten. Das Land, in dem jede Arbeitsniederlegung verboten und Gewerkschaften nicht mehr der verlängerte Arm des Staates sind, hat jetzt schon hunderte von Streiks erlebt. Nicht nur die Textilarbeiter weigerten sich, für Hungerlöhne die Baumwolle zu spinnen und zu weben. Selbst Steuerbeamte und Universitätsprofessoren legten die Arbeit nieder.

Die schlechte Nachricht: Das Regime hat in den letzten Jahrzehnten jede Opposition konsequent unterdrückt - mit Ausnahme der Muslimbrüder, die sich gegenüber dem Westen wie zu Hause gerne als Schreckgespenst einsetzen lassen, um den Fortbestand der Diktatur zu begründen.

Nun regt sich eine dritte Kraft. Noch gibt es keine Organisation, die den Unmut politisch kanalisieren und die Streiks koordinieren kann. Das macht es für das Regime zunächst einfacher, diese mit Polizeigewalt zu unterdrücken. Aber es macht die Revolte der leeren Mägen auch vollkommen unberechenbar. KARIM EL-GAWHARY

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Karim El-Gawhary arbeitet seit über drei Jahrzehnten als Nahost-Korrespondent der taz mit Sitz in Kairo und bereist von dort regelmäßig die gesamte Arabische Welt. Daneben leitet er seit 2004 das ORF-Fernseh- und Radiostudio in Kairo. 2011 erhielt er den Concordia-Journalistenpreis für seine Berichterstattung über die Revolutionen in Tunesien und Ägypten, 2013 wurde er von den österreichischen Chefredakteuren zum Journalisten des Jahres gewählt. 2018 erhielt er den österreichischen Axel-Corti-Preis für Erwachensenenbildung: Er hat fünf Bücher beim Verlag Kremayr&Scheriau veröffentlicht. Alltag auf Arabisch (Wien 2008) Tagebuch der Arabischen Revolution (Wien 2011) Frauenpower auf Arabisch (Wien 2013) Auf der Flucht (Wien 2015) Repression und Rebellion (Wien 2020)

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