Interview zum Umgang mit Irakflüchtlingen: "Vermehrter Schmuggel nach Europa"
Sybella Wilkes, Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR in Damaskus, hält nichts davon, Irak-Flüchtlinge nach Religion aufzunehmen. Es gehe um den Grad der Bedrohung.
taz: Frau Wilkes, was halten Sie von deutschen Vorschlägen, religiöse Minderheiten, vorrangig Christen, aus dem Irak als Flüchtlinge aufzunehmen?
Sybella Wilkes: Es ist wunderbar, dass ein europäisches Land anerkennt, dass viele irakische Flüchtlinge umgesiedelt werden müssen. Aber das sollte sich nicht nur auf Christen beziehen. Einer der Grundprobleme, vor dem Iraker geflohen sind, ist die Gewalt auf Grundlage konfessioneller Zugehörigkeit. Wir können das nicht auch noch bei unseren Umsiedlungsprogrammen fördern. Das ist diskriminierend. Wir als UNHCR wollen daran nicht teilhaben.
Wir haben bisher 12.000 Fälle identifiziert, die dringend umgesiedelt werden müssen. Wahrscheinlich handelt es aber um eine Größenordnung von 75.000 Fällen. Das betrifft alle, eine große Zahl von Christen, Mandäer und Jaziden, aber auch Sunniten und Schiiten.
Wir sollten im Gespräch bleiben. Natürlich hat Deutschland die Option, sein eigenes Verfahren für die Antragsstellung zu eröffnen, etwa an der Botschaft in Damaskus. Dann kann es nach seinen Kriterien vorgehen. Wenn das UNHCR involviert ist, dann ist der Grad der Bedrohung und nicht die Religionszugehörigkeit das Kriterium für eine Umsiedlung.
Was sind die größten Probleme für die 1,5 Millionen irakischen Flüchtlinge in Syrien?
Die Armut ist das größte Problem. Viele Iraker kommen aus der Mittelklasse, und ihnen geht das Geld aus. Sie haben nie damit gerechnet, jemals in so eine Situation zu geraten. Viele der von uns registrierten Flüchtlinge haben einen sehr hohen Bildungsstand, kommen aus etablierten Berufen. Aber nachdem ihnen das Geld ausgegangen ist, haben sie keine Optionen mehr.
SYBELLA WILKES ist die Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks in Damaskus. Zuvor war sie in mehreren Staaten Afrikas tätig.
Die Innenminister der EU erwägen die Aufnahme tausender Flüchtlinge aus dem Irak. Sie wollen im September entscheiden, welches Mitgliedsland wie viele Iraker aufnimmt. Deutschland will den Flüchtlingen bereits im Vorgriff auf den EU-Beschluss eine neue Heimat anbieten. Offen ist allerdings, wie lange die Flüchtlinge dann in Deutschland bleiben können.
Mehr als 4 Millionen Iraker sind derzeit auf der Flucht. Die Verfolgten könnten nicht auf längerfristige EU-Pläne warten, Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble vergangene Woche bei einem Treffen mit seinen Amtskollegen in Luxemburg. Schäuble zufolge soll die EU gezielt "verletzliche schutzbedürftige Personen, wie Angehörige religiöser und ethnischer Minderheiten und andere auf freiwilliger Basis aufnehmen". Von Christen war in dem Papier, das Schäuble seinen Amtskollegen vorlegte, nicht direkt die Rede.
Im Bundestag betonte er allerdings, es sei keine Diskriminierung, einer besonders verfolgten Minderheit wie Iraks Christen in besonderer Weise zu helfen - eine Position, für die es viel Kritik gab. So sagte die außenpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, Kerstin Müller, es könne bei der Hilfe für die Flüchtlinge nicht nach religiöser Zugehörigkeit gehen.
Die Armut hat die schlimmsten Konsequenzen. Wir erleben, dass sie ihre Kinder arbeiten schicken oder dass sie das tun, was wir Überlebenssex nennen, das heißt sie prostituieren sich. Die Mieten hier in Damaskus steigen im Sommer, weil viele Touristen aus den Golfstaaten kommen. Wir haben in den vergangenen Wochen mehrere Fälle, in denen irakische Familien die Miete nicht mehr bezahlen können und den Vermietern statt Geld ihre Töchter anbieten.
Was kann das UNHCR in solchen Fällen unternehmen?
Wir haben viele Flüchtlinge, die umgesiedelt werden, sogar so schnell wie möglich evakuiert werden müssen. Sie sind in unmittelbarer Gefahr. Wir hatten beispielsweise ein 14-jähriges Mädchen, das von seiner eigenen Familie im Irak zur Prostitution nach Syrien geschickt wurde. Dort wurde es von einer Milizgruppe zur anderen weitergereicht und mehrfach vergewaltigt. Das Mädchen war erst sicher, als es schwanger wurde. Doch dann wurde es in Syrien wegen Prostitution verhaftet und eingesperrt. Dieses Mädchen war von mehr als einer Seite gefährdet: durch ihre eigene Familie und ihre eigene Gemeinschaft; und es lief Gefahr, deportiert und in den Irak zurückgeschickt oder in Syrien eingesperrt zu werden. Die einzige Lösung ist, solche Menschen hier wegzubringen.
Wir haben auch hunderte Fälle von gemischten sunnitisch-schiitische Ehen, die von ihren eigenen Gemeinschaften bedroht werden, wenn sie sich nicht trennen. Einige tun das und gehen zurück zu ihren Familien, andere verweigern sich der Trennung und flüchten nach Syrien, wo sie demselben Problem gegenüberstehen. Sie haben keinerlei Optionen.
Man hört immer wieder das Argument, warum sollen sich die Europäer für die irakischen Flüchtlingen engagieren? Sollen doch die Amerikaner die Suppe auslöffeln, die sie im Irak eingebrockt haben.
Tatsächlich erfahren wir eine Spendenmüdigkeit. Als wir das letzte Mal Essensrationen in Syrien ausgeteilt haben, kamen 120.000 Flüchtlinge. Diesen Monat werden es wahrscheinlich 150.000 sein, und nächsten Monat haben wir kein Geld mehr für solche Maßnahmen. Aber wenn den irakischen Flüchtlingen nicht hier geholfen wird, dann werden sie zu anderen Verzweiflungsmaßnahmen greifen. Wir erleben eine vermehrte Schmuggelbewegung nach Europa. Wäre es da nicht besser, diesen Menschen in Syrien zu helfen, so dass sie nicht ihr Leben aufs Spiel setzen, indem sie gezwungen sind, in den Irak zurückzukehren oder sich nach Europa schmuggeln zu lassen? Wenn wir ihnen nicht hier helfen, dann wird Europa die Konsequenzen erleben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!