: Alte machen viel Theater
In der "Werkstatt der alten Talente" stehen Rentner auf der Bühne und geben Erfahrungen an Migranten und Schüler weiter. Das ist moderne Seniorenarbeit
Marianne Kirschke mag Theater. Sie selbst stand schon von Kindesbeinen an auf der Bühne. Später, als Lehrerin für Kunsterziehung und Deutsch im ehemaligen Ostberlin, brachte sie Jugendlichen das Spielen bei. Doch dann erklärte man sie für berufsunfähig. "Ich war der DDR wohl zu politisch", sagt sie und schaut gedankenverloren in den Raum. Anstatt weiterhin als Lehrerin zu arbeiten, bekam die Berlinerin eine Stelle als Finanzbuchhalterin. Nebenbei gründete sie eine Theatergruppe. Und hielt so an ihrer Leidenschaft fest. Heute ist Marianne Kirschke 74 Jahre alt. Auf der Bühne steht sie noch immer: Seit 17 Jahren spielt sie beim "Theater der Erfahrungen", einem Wandertheater nur für ältere Menschen. In diesem Theater sind die Alten gleichzeitig Schauspieler und Drehbuchschreiber.
Das Theater ist in diesem Frühjahr Teil eines gesamtstädtischen Projekts geworden, das sich "Werkstatt der alten Talente" nennt und vom Nachbarschaftsheim Schöneberg getragen wird. Bei der Auftaktveranstaltung Mitte Juni stellten die Leiterinnen, Eva Bittner und Johanna Kaiser, ihr Projekt vor. Ziel der Aktion sei es, so Bittner, eine "lebendige Altenkultur in Berlin" zu schaffen. "Altentheater - das gab es vor gut 30 Jahren, als wir die erste Seniorenschauspielgruppe gegründet haben, noch nicht", berichtet Bittner. Dabei seien gerade heute, da immer häufiger die Folgen des demografischen Wandels diskutiert würden, Aktivitäten nur für ältere Leute gefragt. "Warum sollen sich nicht auch Rentner kreativ ausleben dürfen?"
Ja, warum eigentlich nicht? Denn die über 60-Jährigen, die da während der Eröffnungsveranstaltung auf der Bühne stehen, in grellen Kostümen und selbstbewusst schauspielernd, bestätigen keineswegs das Vorurteil von gebrechlichen Alten, die gern im Wohnzimmer hocken und ständig zum Arzt gehen. Die Senioren singen und tanzen, geben eigene Erfahrungen auf der Bühne preis und nehmen sich dabei oft selbst nicht ganz ernst. "Wir Alten sind Ballast ans Kapital", singen drei Damen, die sich als Mülltonne, Taube und Schwarze Witwe verkleidet haben. Und: "Ich war noch niemals in Berlin."
Die Werkstatt der alten Talente umfasst neben dem Theater der Erfahrungen vier weitere Projekte. In der "Meisterschule" geben die Schauspieler ihre Erfahrungen an Sozialpädagogik- und Theaterwissenschaftsstudenten weiter. Das Projekt "Kreative Potenziale des Alters" besteht aus weiteren Theatergruppen in Tegel, Lichtenrade, Neukölln und Prenzlauer Berg. Auch eine Trommelgruppe ist dabei. Für die Aktion "Interkultureller Schmelztiegel" laden die Senioren Migranten zu den Proben ein. Doch damit nicht genug - in der "Schule des Lebens" besuchen sie verschiedene Schulen und kommen so in Kontakt mit jungen Leuten.
"Dabei stehen stets die Senioren im Mittelpunkt", betont Bittner. "Sie sind es, die die Impulse geben und neue Projekte in Gang setzen. Und dabei ist Theater ihr Handwerkszeug." Angesetzt ist das Projekt "Werkstatt der Talente" für dieses und das kommende Jahr. Bis dahin haben die Geldgeber ihre Unterstützung zugesagt. "Wir hoffen aber, dass die Aktion über 2009 hinaus laufen wird", sagt Leiterin Johanna Kaiser.
Derweil erzählt Marianne Kirschke mit leuchtenden Augen vom neuen Theaterstück, in dem sie zusammen mit türkischen Migranten spielt. "Es geht um einen türkischen Vater, der auf keinen Fall will, dass sein Sohn eine Deutsche heiratet", erklärt die 74-Jährige. "Der Sohn hat aber eine deutsche Freundin. Und die türkische Frau, die der Sohn eigentlich heiraten soll, verliebt sich in einen Griechen."
Bei der Frage, ob sie die ständigen Proben nicht irgendwann satt habe, lacht Kirschke nur. "Natürlich ist Schauspielern manchmal sehr anstrengend, und dann frage ich mich: Warum tust du dir das alles an?", sagt sie. "Aber wenn ich am nächsten Tag wieder auf der Bühne stehe, weiß ich warum: Weil es schlicht Spaß macht." Und Kirschkes Kollegin Ruth Böttge fügt hinzu: "Schauspielern tut einfach gut. Und es ist weitaus sinnvoller, als den ganzen Tag vor dem Fernseher zu hocken."
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