Linz, Europas Kulturhauptstadt 2009: Gang unter die Erde
Einst Führerstadt und 2009 Kulturhauptstadt Europas: Linz rüstet sich für die kommenden Ereignisse, indem sie nicht Leichen, sondern Kunst im Keller entdeckt.
Das nennt man eine erfreuliche Entwicklung. Nach entführten Mädchen und geschändeten Töchtern gibt es jetzt in österreichischen Kellern zeitgenössische Kunst zu entdecken. Leider haben auch diese Keller, in denen nun die durchweg wohl durchdachten, formal und technisch oft überraschenden Arbeiten von 29 internationalen Künstlern zu sehen sind, eine dunkle Geschichte. Denn in diesen unterirdischen Gängen schufteten einstmals KZ-Häftlinge aus dem Lager Mauthausen. Sie bauten die vorhandenen Gewölbe alter Bier- und Weinkellern zu einem durchgehenden Netz riesiger Stollengänge aus, in dem die Bevölkerung von Linz während der alliierten Bombenangriffe Zuflucht fand.
Die oberösterreichische Landeshauptstadt, die sich derzeit anschickt, ihren Auftritt als Kulturhauptstadt Europas 2009 zu organisieren, renommierte bekanntlich eben auch schon einmal mit dem Titel einer "Führerstadt". Ein politisches Erbe, das mit dem aus den 1938 errichteten "Reichswerken Hermann Göring" hervorgegangenen industriellen Erbe des Stahl- und Rüstungskonzerns VOEST lange Zeit das wenig attraktive Bild der Stadt bestimmte. Heute allerdings hat das Nachfolgeunternehmen voestalpine die Globalisierungskrise und den Niedergang der Stahlindustrie mit innovativer Bravour gemeistert, während die Stadt ihr weiterhin hohes Steuereinkommen in die Beseitigung der industriellen Altlasten und den Aufbau bislang mangelnder Kultureinrichtungen investierte.
Mit dem 1974 eröffneten Brucknerhaus an der Donaulände, dem 1979 ins Leben gerufenen Ars Electronica Festival und dem 2003 aus der Taufe gehobenen städtischen Lentos Kunstmuseum entwickelte sich die Industriestadt Linz schließlich zur Kulturstadt. Eine der interessantesten Einrichtungen ist das vom Land Oberösterreich initiierte Offene Kulturhaus OK, das seit dem Ende der 80er-Jahre als Experimentallabor für bildende Kunst, Neue Musik, Film und Performance fungiert. Das OK mit seinem Leiter Martin Sturm und den KuratorInnen Genoveva Rückert, Rainer Zendron und Brigitte Felderer ist denn auch das Mastermind hinter dem Gang in die Unterwelt, einem "Tiefenrausch", dessen literatur- und sozialhistorischen Dimensionen der Berliner Kulturwissenschaftler Thomas Macho auslotete.
Um es gleich zu sagen: Das Erlebnis des "Tiefenrauschs" lohnt. Ob "Strom des Vergessens" im sogenannten Aktien-Keller oder das "Museum der Unterwelten" im OK, die Ausstellungen und Führungen (etwa in die Krypten der verschiedenen Kirchen oder Wasserspeicher der Stadt) überzeugen. Vielleicht, weil der Gang unter die Erde nie die orphische Prozession zu Ursprung und Erbsünde meinte. Er setzt vielmehr ein erfolgreiches Projekt mit Kunst im öffentlichen Raum fort, das "Schaurausch" hieß, die Schaufenster der Linzer Innenstadt okkupierte und damit die Geschäftsstadt als öffentlichen Raum definierte. Nach der Eroberung der ehemaligen Luftschutzbunker, der Grüfte und der Wasserversorgung wird der abschließende dritte, "Höhenrausch" betitelte Teil zu Zeiten der Kulturhauptstadt Linz auf die Dächer der Stadt führen.
Der Gang in die musealen Unterwelten ist eine Begegnung mit den unterschiedlichsten Zeugnissen einer lange währenden Faszinationsgeschichte. Sie reicht von der christlichen Idee des Höllenfeuers bis ins 19. Jahrhundert, in dem Dantes Inferno plötzlich ein prickelnder Event hipper Dekadenz ist; sie reicht vom mittelalterlichen Bergbau über die Fotografien von Nadar, der um 1900 den Bau der Pariser Metro dokumentierte, bis zu Hans Schabus, Österreichs Vertreter in Venedig 2005, der sich drei Jahre zuvor heimlich daran gemacht hatte, in seinem Atelier einen Schacht auszuheben. Nur das Motiv des Verlieses, des unterirdischen Gefängnisses, das bestimmt die Hölle ist, wenn auch eine weltliche, kommt zu kurz; die böse, von der Lust an der Untat bestimmte Faszination an der Unterwelt und ihren dunklen Kanälen.
Amstetten konnte allerdings nicht der Grund für die zögerliche Haltung der Kuratorin Brigitte Felderer sein. Denn erst vierzehn Tage bevor "Tiefenrausch" eröffnete, wurde Josef Fritzl internationales Tagesgespräch. Bestimmt werden wir demnächst den ersten Kunstwerken begegnen, die diesen Biedermann und sein bizarres, grausames Verbrechen zum Thema haben. Es könnte durchaus der künstlerischen Argumente bedürfen, um in diesem Wahnsinn wenigstens die eine oder andere Schicht von Wahn und Sinn freizulegen.
Der "Strom des Vergessens" jedenfalls wälzt reichlich Sinn und Wahn in die erinnerungsträchtigen, etwa vier Meter breiten und sechs Meter hohen Gewölbe des Aktien-Kellers. Eindeutig ein temporärer Kunstraum, ist der Keller kein Ort der Mahnung, und damit steht es in der Verantwortung der Künstler zu entscheiden, was und wie hier vergessen oder erinnert werden soll. Zum Beispiel prachtvoll und feierlich, wie es die Linzer Künstlerin Ursula Witzany vorschlägt, indem sie den Gang mit sechs üppigen Kristalllüstern erhellt; ein surreales Bild, bei dem man zwangsläufig den früheren Luftschutzkeller imaginiert. Zum Beispiel albern, mechanisch-pompös wie Fernando Sanchez Castillos mit seinem monumentalen Denkmalsockel, dessen erhabener Anblick freilich durch den Geldschlitz an der Stirnwand untergraben wird. Ein Euro - und schon fährt aus dem Sockel die Reiterstatue Francos empor, um danach schlappe 20 Sekunden lang in voller Größe zu verharren. Die Ironie dieses lächerlichen Mahnmals der Erinnerung an die Franco-Statuen, die in Spanien überall noch zu finden sind, liegt nun darin, dass sie auch deshalb fortexistieren, weil die meisten Spanier sie längst vergessen haben und im Straßenbild schlicht übersehen.
Die Erfahrung staatlicher Gewalt ist vielfaches Thema, Hito Steyerls Recherche zu einer alten bosnischen Filmmonatsschau überlagern die Kriegserfahrungen ihres Mitarbeiters in Sarajevo; mit dem Mittel des Re-enactments erinnert sich der chinesische Künstler Chen Chieh-jen, wie ein Militärgefängnis vis-à-vis dem Elternhaus in Taipeh ihn als Kind beschäftige; Vera Frankel, Grande Dame der kanadischen Gegenwartskunst, geht in einer weitläufigen Multimedia-Installation den Folgen von Hitlers - Kunstsammlung genanntem - Kunstraub für das geplante Führer-Museum in Linz nach; und in der Multimedia-Installation "Die Vertreibung der Vernunft" versuchte Peter Weibel 1993, der Daten aller österreichischen, durch die Nazis zu Emigranten oder Opfern des Holocaust gemachten jüdischen Intellektuellen habhaft zu werden.
Um zu wirken, brauchen diese Arbeiten, die dicht an der nationalsozialistischen Vergangenheit von Linz und ihrem besonderen Ausstellungsort angesiedelt sind, die Aufladung durch dessen spezifische Aura nicht. Darin, dass sie sichtlich auch an jedem anderen Ort beeindrucken, liegt das große Verdienst der Ausstellung. Die Kunst bedient nicht den Exotismus des Kellers und sie bedient sich auch nicht seines Exotismus. Deutlich zeigt sie ihre autonome Qualität.
Natürlich wirkt Kurt Hentschlägers Nebelraum "Zee" in der kalten, feuchten und dunklen Umgebung (in den Stollen herrschen konstante 12 Grad Celsius und 80 Prozent Luftfeuchtigkeit) interessanter und bedrohlicher als im Komfort des White Cube. Droht ein Test der eigenen Belastungsgrenze, falls die eh schon zunehmend bedrückende Hermetik des Raums sich hier noch steigert? Doch die dicke Nebelsuppe, die einem mal knallgelb, mal leuchtend weiß oder blau jede Sicht verstellt, ist purer Zauber, in dem das Stroboskoplicht im Dunst abstrakte Op-Art-Muster erblühen lässt. Kaum hat man sich am Seil nach draußen gehangelt, wünscht man sich sofort in diese Wunderkammer zurück, in der Hentschläger Erinnern als Wahrnehmungsakt, als Neuerleben des schon Erlebten analysiert, dem Traum so nah wie der realen Welt.
Nicht das unterirdische, das oberirdische Linz ist der paradigmatische Ort, um zu vergessen - zunächst einmal Österreich. In der Kulturhauptstadt Europas 2009, die kaum Kaffeehäuser, dafür viel modernistische Architektur hat, bleibt man vom bekannten, viel geliebten touristischen Österreichbild unbehelligt, das man aus dem Rest des Landes kennt. Stattdessen trifft man auf eine Mittelstadt von rund 200.000 Einwohnern, die prosperiert, weil sie vergessen hat, was gut zu vergessen ist. Selbst Arbeitslosigkeit oder Leerstand sind hier vergessen. Eine freie Industriehalle aber könnte Martin Heller, der Intendant der Kulturhauptstadt, für sein Programm gut gebrauchen. Jetzt muss er sie bauen und auch mit ihr die postindustrielle Sachlichkeit von Linz populär machen. Denn darin besteht die eigentliche Herausforderung an den Züricher Intendanten, der die umstrittene Schweizer Expo 2002 verantwortete. Kann die Linzer Postmoderne in seinem Programm Glanz und Abenteuergeist entwickeln, obwohl oder gerade weil sich hier weder Kultur noch Industrie traditionsreich gebärden? Spätestens bei der Erinnerung an das, was schlecht zu vergessen ist, und was Heller mit der "Kulturhauptstadt des Führers" zur Sprache bringen wird, sollte deutlich werden, dass Linz inzwischen ein Recht auf seinen "Höhenrausch" 2009 hat.
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