Hölderlin-Ausgabe komplett: Der Leser forscht mit
Nach 33 Jahren hat Dietrich Eberhard Sattler seine Frankfurter Hölderlin-Ausgabe beendet, die er im 20. Band noch einmal chronologisch durchwandert.
In Lyon gibt es einen Eintrag im Passkontrollbuch. Er sei im württembergischen Lauffen geboren und von Beruf "homme de lettre", steht da. Der 32-jährige und 1,76 Meter große Deutsche habe ein ovales Gesicht, schmales Kinn und eine mittelgroße Nase.
Unterschrieben wurde der Meldezettel von "Johann Christian Friederich Hölderlin". Spätestens am 8. Januar 1802 soll der Mann weiter nach Bordeaux gewandert sein. Was folgt, erfährt man in einem Brief, den der Wanderer am Ziel seiner Wanderung abschickt.
Er habe die letzte Strecke seines Weges "auf den gefürchteten, überschneiten Höhen der Auvergne, in Sturm und Wildniß, in eiskalter Nacht und die geladene Pistole neben mir im rauhen Bette" hinter sich gebracht, schreibt er an seine Mutter.
Dann grüßt er "wie ein Neugeborner" und mutmaßt, er sei nun "durch und durch gehärtet und geweiht, wie ihr es wollt". Der deutsche Dichter Friedrich Hölderlin sollte sich getäuscht haben.
Er hatte die Strecke von Nürtingen über Straßburg und Lyon nach Bordeaux zurückgelegt, nur um dort festzustellen, dass das mit der Hauslehrerstelle beim Hamburger Konsul und Weinhändler Meyer nichts für ihn ist.
Schon nach kurzer Zeit machte er sich auf den Rückweg, überschritt am 7. Juni die Grenze bei Straßburg und wurde Ende des Monats in Stuttgart von einem Brief seines Freundes Isaak von Sinclair eingeholt. "Der edle Gegenstand deiner Liebe ist nicht mehr", steht da. "Am 22ten dieses Monats ist die G. gestorben, an den Rötheln, am 10ten Tag ihrer Krankheit."
Wie schwer die Nachricht vom Tod Susette Gontards ihn getroffen hat, ist schwer zu ermessen. Er verehrte, liebte sie. Sie war Zielpunkt seines Schreibens und Vorbild der Diotima im Briefroman "Hyperion". Zuerst einmal versank Hölderlin in intensive Arbeit, übersetzte Pindar und Sophokles, schrieb so mächtige Dichtungen wie "Der Rhein", "Friedensfeier" und "Die Wanderung".
Seinen Zustand in diesen Monaten muss man wohl als einen der zunehmenden äußeren Verwahrlosung bei gleichzeitiger größter geistiger Klarheit bezeichnen. Mitte Juli 1803 taucht er unangemeldet bei Schelling auf, worauf der Freund aus den Zeiten am Tübinger Stift einen Brief an den Dritten im Bund schreibt: "Sein Anblick war für mich erschütternd (…) Ich dachte dich zu fragen, ob Du Dich seiner annehmen wolltest, wenn er etwa nach Jena käme, wozu er Lust hatte".
Hegel antwortete, Hölderlin sei längst "über die Periode hinaus, in welcher Jena eine positive Wirkung auf einen Menschen haben kann". Dass man anhand solcher Briefe nachvollziehen kann, wie der "pauvre Holterling" damals durch die Welt irrte und die mit ihm befreundeten Größen des deutschen Idealismus ab einem gewissen Zeitpunkt den Kontakt mit ihm scheuten, ist D. E. Sattlers historisch-kritischer Ausgabe sämtlicher Werke Hölderlins zu danken.
D. E. steht für Dietrich Eberhard. Der Mann, der hinter dem Kürzel steht, wird nächstes Jahr 70 Jahre alt und hat in diesen Tagen seine "Frankfurter Hölderlin Ausgabe" (FHA) mit dem 20. Band abgeschlossen, als sei das das Selbstverständlichste der Welt und als habe er nicht seit dem Startschuss im Jahr 1975 neue Maßstäbe im Bereich der Klassiker-Edition gesetzt.
Sattler war der Erste, der den Leser zum Mitforschenden machte und ihn mit einem Nebeneinander fotografierter Handschriften und typografisch komplexer Umschriften der Faksimile in die Lage versetzte, den Entstehungsprozess von Dichtung nachzuvollziehen.
Im Fall der für Hölderlin so schmerzhaften "Hälfte des Lebens" vor und nach seiner Zeit in Bordeaux kann man sehen, wie er beim Überarbeiten seiner Texte Wortschicht für Wortschicht auftrug. Er strich nicht, sondern ließ syntaktische Varianten in einem babylonischen Über-, Neben- und Zwischeneinander stehen.
Zusätzlich zu diesen oft ziemlich zerklüfteten Schreiblandschaften und den komplexen Umschriften ediert Sattler auch die Korrespondenz Hölderlins und andere Textzeugnisse, die einen Eindruck davon vermitteln, wie sprachlos und kalt die Mauern in dieser Zeit um ihn standen.
Der hochmögende Dichter stand mit seiner an der griechischen Metrik geschulten Syntax nicht nur einsam im Zirkel der deutschen Klassik, sondern begeisterte sich ganz nebenbei auch noch für die Ideale der Französischen Revolution.
Nachdem er den Frankfurter Haushalt der Gontards auf Anweisung des Hausherrn, der wohl seine Ehe in Gefahr sah, verlassen hatte, schrieb Hölderlin einen Brief an Schiller und bat, ob der sich nicht dafür verwenden könne, dass er, Hölderlin, Vorlesungen an der Jenaer Universität halten darf. "Sie werden es nicht verschmähen, durch ihre Theilnahme meinem Lebensgange ein Licht zu leihen", schrieb Hölderlin.
D. E. Sattler setzt unter den Brief ein nüchternes "Schiller antwortet nicht". Abgedruckt sind solche biografischen Dokumente und die Korrespondenz Hölderlins aus der Zeit von 1801 bis 1809 in den Bänden 7 und 8 der FHA.
Sie vermitteln einen polyphonen Eindruck von den Ereignissen, angefangen von Hölderlins Frankfurter "Rausschmiss" bis hin zur Entlassung aus dem Authenriethischen Klinikum in Tübingen und Hölderlins Aufnahme im Haushalt des Tischlers Ernst Zimmer. In diesen Bänden enthalten sind auch die Dichtungen, die D. E. Sattler "hesperische Gesänge" nennt.
Dazu gehören mit den Anfangsversen aus "Patmos", "Nah ist / Und schwer zu fassen der Gott. / Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch", die wohl berühmtesten Zeilen Hölderlins. Geschrieben hat er sie vermutlich Ende Oktober 1802, kurz nach seiner Rückkehr aus Bordeaux.
Auch hier ist neben den transkribierten Entstehungsstufen des Gedichts die steil nach oben strebende und mit Schwüngen gekrönte Handschrift Hölderlins zu sehen. Nicht zuletzt wegen dieser Gegenüberstellung von Hand- und Umschrift ist D. E. Sattlers FHA das Vorbild aller aktuellen historisch-kritischen Klassikerausgaben und er selbst Spiritus Rector einer Editionspraxis, die vor allem in dem Verlag Schule machte, der mit ihm ein derart monumentales und alles andere als lukratives Unternehmen wagte.
Heute haben der Frankfurter Stroemfeld Verlag und dessen Chef, K. D. Wolf, eine Herausgeberfamilie von historisch-kritischen Ausgaben um sich versammelt, deren editorische Arbeit unter anderem Kleist, Keller, Kafka und Robert Walser umfasst.
Der Prototyp all dieser Edititionen ist die FHA, der Sattler 33 Jahre seines Lebens widmete und deren Abschluss er in diesen Wochen erlebt, wohl im Gegensatz zu manchem Subskribenten, der die FHA von Anfang an orderte und mitfinanzierte.
Hatte Sattler in den zurückliegenden Bänden noch gattungsspezifisch sortiert, setzt er mit dem abschließenden 20. Band jetzt gegen diese "klassifizierende Bandeinteilung das dem Verfahren der prozessualen Textdarstellung allein adäquate Ordnungsprinzip der Zeit in Kraft". Man könnte meinen, da widerrufe einer sein Editionsprinzip.
Tatsächlich allerdings ist in der 600 Seiten umfassenden chronologisch-integralen Edition ein Wanderer unterwegs, der die zurückliegenden Bände noch einmal durchschreitet und in einer einbändigen Gesamtausgabe chronologisch versammelt.
Wie alle vorangegangenen Bände ist auch dieser Band ein grüner Backstein, der, packte man ihn in den Rucksack, Lesestoff für eine Weltumrundung böte, in deren Verlauf man irgendwann dann auch auf die "Friedensfeier" stoßen würde.
Deren Reinschrift schloss Hölderlin vermutlich im September 1802 ab. Seither kann man dort lesen: "Viel hat von Morgen an, / Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander, / Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang." In den Versen schwingt die Sehnsucht eines Menschen, der zu diesem Zeitpunkt schon sehr wenig von anderen erfuhr und in der Widmung zum Gedicht meinte, man möge "dieses Blatt nur guthmüthig" lesen.
Sollte dem ein oder anderen die Sprache des Gedichts zu wenig konventionell erscheinen, bliebe ihm, Hölderlin, nur das Geständnis: "Ich kann nicht anders." Auch Sattler konnte nicht anders, als sein Herausgeberleben dem kühnsten Sprachbewohner deutscher Zunge zu widmen.
Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Stroemfeld Verlag, Subskriptionspreis 2.350,00 €
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