Die Sehnsucht der SPD: KOMMENTAR von STEFAN REINECKE
So viele Stimmen wie Matthias Platzeck hat seit 1948 kein SPD-Parteichef mehr bekommen. Das ist erstaunlich. Platzeck verfügt über keine Hausmacht in der Partei und entspricht keineswegs dem klassischen Typus des SPD-Funktionärs. Warum also dieses Ergebnis?
Die SPD-Delegierten haben Platzeck nicht gewählt, weil sie ihn so gut kennen, sondern weil sie ihn eher wenig kennen. Platzeck ist der Joker nach dem Machtspiel, das Schröder, Müntefering und Nahles bis zum Fiasko durchexerziert haben. Er ist, mehr als alles andere, ein Versprechen.
Diese 99,4 Prozent zeigen die fast verzweifelte Sehnsucht der SPD nach Harmonie, Sinnstiftung und Ruhe. Und die bedient Platzecks verbindliche Performance perfekt, die das glatte Gegenteil von Schröders Machtwortgehabe zu sein scheint.
Der neue SPD-Chef will, so seine beiden Botschaften, für den Zusammenhalt der Gesellschaft und für Chancengerechtigkeit sorgen. Und er versteht es auch, dieses große Wir-Gefühl glaubwürdig zu verkörpern. Aber das wird nicht reichen.
Seit Jahren studieren weniger Kinder aus der Unterschicht. Und dieser Trend wird noch stärker. Die große Koalition hat gerade via Mehrwertsteuererhöhung beschlossen, vor allem die Unterschicht die Kosten für die Haushaltssanierung zahlen zu lassen. Die deutsche Gesellschaft spaltet sich immer mehr in oben und unten.
Dieser Prozess ist mit der etwas wolkigen Gemeinwohl-Rhetorik, die die SPD-Netzwerker gerne anschlagen, nicht zu stoppen. Auch bei Platzeck war viel von der hart arbeitenden Mitte der Gesellschaft zu hören – aber wenig Konkretes über jene, die draußen sind. Das fehlt. Es ist kein Zufall, dass die SPD bei der Bundestagswahl dramatisch bei Arbeitslosen Stimmen verlor – und die Linkspartei sie dort gewann.
Wenn die SPD es ernst mit dem sozialen Zusammenhalt meint, dann wird sie auch auf Konfrontationskurs zur großen Koalition gehen müssen. Viel wird davon abhängen, ob ihr neuer Chef auch mal Streit mit Müntefering und Steinbrück riskiert. Im Moment sorgt Platzeck in der SPD für gute Stimmung. Reichen wird das nicht. Gerade nicht in der großen Koalition.
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