: „Wir philosophieren ständig über das Leben“
DIE INDIVIDUALISTINNEN Hähnchen (26) und Tonne (27) haben sich vor ein paar Jahren in einer Kriseneinrichtung für suizidgefährdete Jugendliche kennengelernt. Tonne hat bereits sechs Selbsttötungsversuche hinter sich, beim Sturz vor eine U-Bahn verlor sie einen Unterschenkel. Ein Gespräch über Ess- und Borderline-Störungen, über die Sehnsucht nach dem Tod und eine Freundschaft, die motiviert, trotzdem weiterzuleben
■ Tonne wird 1985 geboren. Sie wächst in Steglitz bei ihrer Mutter auf. Mit 13 wird eine Borderline-Störung diagnostiziert. Nach der 11. Klasse bricht sie die Schule ab. Mit 15 unternimmt sie den ersten Suizidversuch, mit 17 stürzt sie vor eine U-Bahn. Ihr rechter Unterschenkel muss amputiert werden.
■ Hähnchen wird 1986 geboren, sie wächst in Reinickendorf bei der Mutter und einem Stiefvater auf. Schon als Kind hat sie Essstörungen, sie ritzt sich die Arme auf. In der 12. Klasse verlässt sie die Schule. Wie Tonne muss sie mehrfach in die Psychiatrie.
■ Tonne und Hähnchen lernen sich 2006 bei Neuhland kennen. 2007 beziehen die beiden eine kleine Altbauwohnung. Eine Einzelfallhelferin kümmert sich um sie. Sie beziehen staatliche Grundsicherung.
■ Tonne hat sich mit ihrer Mutter vor ein paar Jahren ausgesprochen. Zwischen Hähnchen und ihrer Mutter haben Annäherungsversuche begonnen.
■ Tonne und Hähnchen in Bild und Ton: taz.de/berlinfolgen.
INTERVIEW PLUTONIA PLARRE FOTOS KHALID AZIZ
taz: Tonne und Hähnchen, ihr wirkt unzertrennlich, fast wie Zwillinge. Was verbindet euch?
Tonne: Wir sind allerbeste Freundinnen. Und wir haben dieselbe Krankheit.
Hähnchen: Ich verstehe ihre Seelenqualen und sie versteht meine.
Tonne: Nichtkranke verstehen meistens nicht, wie das ist, wenn man sich ritzt oder Depressionen hat. Auch wohnmäßig passen wir perfekt zusammen. Sie kennt sich mit Elektrosachen aus. Wenn eine Sicherung rausfällt, wäre ich völlig überfordert.
Hähnchen: Ich kann mir besser Gesichter merken, und sie besser Namen. Aber das Wichtigste ist, dass ich mit ihr über alles reden kann, wenn ich das Gefühl habe, ich halte es nicht mehr aus. Sie schafft es, mich aus der Depression wieder rauszuholen.
Ihr habt Borderline und Essstörungen. Was ist schlimmer?
Tonne: Die Essstörung nervt. Aber Borderline ist einfach schrecklich. Dieses sich schlecht fühlen und nicht mehr leben wollen. Dieses Gefühl, im Loch zu sein und nicht mehr rauszukommen.
Hähnchen: Ich sehe meine Essstörung gar nicht so als Problem an. Ich weiß, dass ich nach dem Normalmaß viel zu wenig wiege. Aber ich habe das angenommen. Es gehört zu mir. Das Einzige, was nervt, sind die Begleiterscheinungen der Mangelernährung: Kopfschmerzen, Schwindel, Muskelkrämpfe. Meine Zähne tun weh. Der Körper baut doch ab.
Wann habt Ihr das letzte Mal gegessen?
Tonne: Vor drei Tagen.
Hähnchen: Jeder ein Brötchen. War lecker.
Tonne: Wir essen alle fünf Tage. Normalerweise kochen wir dann und machen einen Nachtisch. Oder wir frühstücken. Fünf Tage passt einfach am besten. Wir haben es auch mal mit acht Tagen versucht. Aber da konnten wir fast nicht mehr.
Warum tut ihr euch das eigentlich an?
Tonne: Vom Kopf her weiß ich, ich habe nicht gerade Übergewicht, aber das hilft nichts. Ich gucke in den Spiegel und sehe mich fett. Ich guck an mir runter und sehe es überall wabbeln.
Hähnchen: Irgendwann ist der Hunger auch weg. Dünnsein ist eine Körperschemastörung. Ich möchte kindlich aussehen. Ich mag keine Brüste, keinen Po, gar nichts. Und ich möchte nicht so viel Raum einnehmen. Am liebsten würde ich verschwinden. Wenn ich andere Magersüchtige auf der Straße sehe, habe ich auch immer das Gefühl, sie sind eigentlich gar nicht richtig da.
Tonne: Was ich auch total super finde, ist, dass man seine Periode nicht mehr kriegt.
Tonne und Hähnchen sind Spitznamen. Was hat es damit für eine Bewandtnis?
Tonne: Das hat sich eingebürgert, als ich in der 5. Klasse war. Heute sag ich immer, das kommt von Mülltonne. Ich find’s lustig. Ich wühl ja auch gerne in Mülltonnen rum.
Hähnchen: Wir haben uns mal gestritten, und da hat mich Tonne Terrorhähnchen genannt. Daraus ist dann Hähnchen geworden.
Wie habt ihr euch kennengelernt?
Hähnchen: Das war 2006 bei Neuhland. Das ist eine therapeutische WG für suizidgefährdete Jugendliche. Wir haben uns auf Anhieb total gut verstanden.
Tonne: Schon weil wir ziemlich ähnlich aussehen, den gleichen Style haben, die gleichen Ansichten und so.
Seht ihr euch als Punks?
Tonne: Ich möchte nicht in eine Schublade gesteckt werden. Ich würde sagen, wir sind Individualisten.
Aber ihr habt euch ja auch als krank bezeichnet.
Tonne: Ich mag die Bezeichnung eigentlich nicht, aber für die Allgemeinheit bin ich krank. Obwohl ich finde, dass meine Sicht auf die Welt oft viel logischer ist als die anderer Menschen.
Hähnchen: Ich habe oft das Gefühl, dass die Menschen nur auf den eigenen Krümel auf ihrem Teller gucken. Wir machen uns viele Gedanken. Wir philosophieren ständig über das Leben: Wieso? Weshalb? Warum? Aber natürlich ist es schon so, dass ich merke, dass ich anders bin. Dass ich nicht wie die meisten anderen Menschen positiv an das Leben herangehe.
Das Borderline-Syndrom ist eine Persönlichkeitsstörung. Wie äußert sich das bei euch beiden?
Hähnchen: Ich fühle mich in meinem Körper nicht zu Hause. Ich bin zu früh geboren und habe drei Monate im Brutkasten gelegen. Schon als Kind habe ich mich in meinem Zimmer verkrochen und gehofft, dass mich irgendwer holt und dahin bringt, wo ich hingehöre.
Und wie hat es bei dir angefangen, Tonne?
Tonne: Mit 12 oder 13 ging’s mir so schlecht, dass ich angefangen habe zu ritzen. Autoaggressionen und Suizidgedanken und vor allem einfach Depressionen. Es war wirklich oft so, dass ich dachte, ich kann keinen Atemzug mehr tun. Ich habe auch öfter versucht, mich umzubringen. Man hasst sich selber – eigentlich die ganze Welt. Ich war auch mehrmals in der Psychiatrie, aber ich bin danach immer wieder weiter zur Schule gegangen. Bis ich mit 17 meinen Unfall hatte. Danach bin ich abgegangen, da war ich in der 11. Klasse.
Was war das für ein Unfall?
Ich bin volltrunken vor eine U-Bahn gesprungen oder gefallen – ich weiß nicht. Ich glaube, gesprungen. Dabei habe ich meinen rechten Unterschenkel verloren. Ich habe daran überhaupt keine Erinnerung. Wahrscheinlich lag ich zwischen den Schienen. Mein Bein lag irgendwie außerhalb, so dass es erwischt wurde. Seitdem habe ich eine Beinprothese.
War es die anderen Male auch so knapp?
Ich habe es sechsmal versucht. Immer mit Tabletten. Der erste Versuch war mit 15. Eigentlich habe ich es so alle halbe Jahre versucht. Ein Mal war es nicht so ernst gemeint. Aber die anderen Male habe ich es wirklich versucht. Das erste Mal war, als meine Mutter sechs Wochen auf Kur war. Ich habe extra gewartet – ein halbes Jahr – bis sie dahin fährt. Aber meine Mutter hatte das Gefühl, dass mit mir was nicht stimmt und hat ihren Lebensgefährten in die Wohnung geschickt. Der hat mich dann gefunden. Bei mehreren Versuchen hat meine Mutter das irgendwie gespürt. Ich war total sauer auf sie.
Wie lange ist der letzte Suizidversuch her?
Acht Jahre? Guckt Hähnchen fragend an. Auf jeden Fall habe ich es nicht mehr versucht, seit wir hier in der Wohnung sind. Manchmal habe ich solche Gedanken, aber wirklich sehr selten. Mir geht es jetzt so gut, wie in meinem ganzen früheren Leben nicht.
Und du, Hähnchen?
Hähnchen: Im Nachhinein würde ich sagen, es waren keine ernsthaften Suizidversuche. Ich habe mal Tabletten genommen, aber das war eine viel zu geringe Menge. Ich hatte oft den Drang, aber ich wusste immer, dass mich meine beiden kleinen Brüder brauchen.
Warst du auch in der Psychiatrie?
Hähnchen: Ja, öfter. Mit 16 zwangsweise, danach gab es ein paar freiwillige Aufenthalte. Ich dachte, vielleicht hilft es mir, was aber nicht der Fall war. Mir geht es darum, dass Leute, die solche Probleme haben wie wir, wissen, dass es WGs gibt. Ich glaube, mir hätte geholfen, wenn ich früher aus dem Elternhaus rausgekommen wäre.
Tonne: Ich hab das als Rausschmiss empfunden, wo ich mit 15 von zu Hause ausziehen musste. Meine Mutter meinte, sie kann einfach nicht die Verantwortung für ein selbstmordgefährdetes Kind übernehmen. Ich hatte auch sehr viele Freiheiten zu Hause. Und da habe ich manchmal auch gedacht, dass ich ihr nicht wichtig bin. Manchmal ist zu viel Freiheit auch nicht gut. Aber später, in der WG, habe ich auch viel Mist gebaut.
2007 seid ihr beiden zusammengezogen. Eine Einzelfallbetreuerin sieht nach euch. Wie verbringt ihr eure Zeit?
Tonne: Wir lesen sehr gerne. Wir lesen uns auch oft vor, sind ständig in der Bibliothek. Im Sommer gehen wir schnorren, sitzen im Park oder treffen Freunde. Zwischen den Esstagen rauchen wir ganz viel. Schon so jeder 40, 50 Zigaretten am Tag. Weil Tabak viel zu teuer ist, gehen wir Kippen sammeln. Wir sagen immer, das Geld liegt auf der Straße.
Hähnchen: Die Leute sagen immer, ihr werdet krank davon. Das stimmt aber nicht. Wir fummeln jedenfalls den Tabak raus und machen mit dem Stopfer neue Zigaretten. Im Winter ist es ganz schwierig, da sind die meisten Kippen nass. Man muss sie also erst trocknen. Das ist schon eklig. Als wir angefangen haben zu sammeln, hat es noch keiner gemacht. Seit einem Jahr sehe ich öfter Leute. Wenn ich zum Ascher gehe, steht da schon einer und sammelt die Kippen raus. Aber das Schöne ist: Gerade Leute, die irgendwie nichts haben, geben was ab.
Trinkt ihr Alkohol?
Tonne: Joah.
Hähnchen: Wir haben Zeiten, da haben wir Lust drauf und dann wieder 14 Tage gar nicht.
Tonne: Manchmal trinken wir drei Tage durch. Wodka. Und sind nur besoffen. Das kommt wirklich auch auf den Geldbeutel an. Und auf die Stimmung. Bier trinken wir auch sehr gerne, einfach so zwischendurch.
Wie verträgt sich das mit euren Medikamenten?
Tonne: Keine Probleme.
Ihr seid ein auffälliges Gespann. Wie reagieren die Leute auf euch?
Der türkische Gemüsemann in unserer Straße schenkt uns immer Gemüse, wenn wir ihn fragen.
Hähnchen: Die Leute erkundigen sich auch nach unseren Ratten.
Tonne: Wenn’s draußen warm ist, nehmen wir die manchmal mit raus. Darüber kommt man schon mal ins Gespräch: „Hach, wie süß!“ Viele Leute fragen auch, ob das Kaninchen oder Hamster sind. Es gibt aber auch Gegenden, da begegnen einem die Leute nicht mit so viel Nettigkeit.
Hähnchen: Wir werden oft als asozial beschimpft.
TONNE ÜBER IHRE ESSSTÖRUNG
Wärt ihr denn gerne anders?
Tonne: Natürlich. Ich wäre gerne glücklich. Es ist nicht so, dass ich jeden Morgen beim Aufwachen sagen will: Hurra, ich liebe das Leben. Ich freue mich schon, wenn ich aufwache und nicht denke: Oh Gott, ich will tot sein.
Hähnchen: Beim letzten Therapiegespräch in der Klinik, wo ich zuletzt war, hatte ich drei Minuten wirklich ein Licht in mir drin. Ich dachte: Wow, ist das schön. Es war ein unbeschreibliches Geborgenheitsgefühl. Danach hatte ich das nie wieder. Wenn ich das Gefühl immer hätte, würde ich es mir gut gehen.
Gebt ihr jemandem die Schuld für eure Krankheiten?
Tonne: Ich sag mal, Eltern tragen immer dazu bei, wie man wird. Aber jeder Mensch geht anders mit Gefühlen und Erlebnissen um und verarbeitet sie anders. Schuld ist ein Wort, das ich nicht verwenden würde.
Habt ihr bei den Suizidversuchen jemals daran gedacht, wie das für eure Eltern ist?
Tonne: Ich habe einmal einen Abschiedsbrief geschrieben. Aber irgendwann ist auch der Punkt gekommen, wo es nicht mehr weitergeht. Dann hilft auch die ganze Liebe der Leute nichts – auch wenn es einem wirklich sehr leid tut, vor allem für meine Mutter. Den U-Bahnfahrer habe ich auch bedauert. Er musste danach in psychologische Behandlung. Wenn man sich schon umbringt, sollte man andere nicht mit reinziehen.
Hähnchen: Bei mir waren meine kleinen Brüder der einzige Anker, warum ich es nicht gemacht habe. Aber wenn man weiterlebt nur für die anderen, tut man den anderen auch damit weh. Sie sehen ja, wie schlecht es einem geht und wie kaputt man ist.
Habt ihr gar keine Angst vor dem Tod?
Tonne: Die Schmerzen beim Sterben, das ist das Problem. Deswegen hab ich auch immer Tabletten genommen. Weil Pulsadern aufschneiden oder Erhängen – da kann immer so viel schiefgehen. Aber der Tod an sich macht mir keine Angst.
Hähnchen: So geht’s mir auch. Der Tod ist für mich so eine Art Erlösung.
Tonne: Es kommt ja auch darauf an, was man denkt, was nach dem Tod kommt. Ich glaube nicht an Gott und nicht an Seele. Was viele Leute als Seele bezeichnen, sind Verknüpfungen im Gehirn, die Gefühle hervorrufen. Deswegen glaube ich, dass da gar nichts mehr kommt.
Hähnchen: Nee. Ich weiß nicht warum, aber ich glaube, dass danach noch was kommt. So, wie wenn man einen schlechten Traum hat und aufwacht, stelle ich mir das vor. Dass alles besser und schöner wird. Das wünsche ich mir einfach.
Sprecht ihr oft darüber?
Hähnchen: Ja. Wir haben beide eine Patientenverfügung. Ich möchte auf gar keinen Fall, dass meine Mutter darüber bestimmen kann, wie lange ich im Koma liege. Ich möchte, dass so schnell wie möglich abgestellt wird.
Wenn eine von euch beiden morgen sagen würde, ich will nicht mehr – was täte die andere?
Tonne: Wenn sie jetzt in einer krassen Depriphase sagen würde, ich will nicht mehr leben, würde ich natürlich versuchen sie davon abzuhalten. Und versuchen, ihr das bisschen Lebensmut zu geben, das sie braucht, bis sie sich besser fühlt. Weil – ich sie halt brauche.
Hähnchen: Ich sie auch.
Und wenn ihr euch nicht begegnet wäret?
Tonne: Dann wären wir wahrscheinlich schon tot.
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