Spesenskandal in Großbritannien: Labour-Dämmerung in London
Eine britische Ministerin nach der anderen tritt wegen des Spesenskandals zurück, pünktlich zu den Europa- und Kommunalwahlen.
Das hatte sich der britische Premierminister Gordon Brown anders vorgestellt. Eigentlich wollte er nach dem unvermeidbaren Debakel bei den Kommunal- und Europawahlen sein Kabinett radikal umbilden, um einen Neuanfang zu signalisieren. Doch nun hagelt es Rücktritte, genauer gesagt: Rücktrittsankündigungen. Zuerst nahm Innenministerin Jacqui Smith ihren Hut, dann traten die Staatssekretäre Beverley Hughes und Tom Watson zurück, danach Regionalministerin Hazel Blears, und schließlich erklärten die Hinterbänkler David Chaytor und Patricia Hewitt, ehemalige Gesundheitsministerin, dass sie ihre Unterhaussitze bei den nächsten Wahlen aufgeben werden.
Drei weitere Abgeordnete dürfen wegen ihrer betrügerischen Spesenabrechnungen gar nicht erst kandidieren. Darüber hinaus werden sich weitere Abgeordnete zurückziehen, weil sie keine Lust haben, im nächsten Jahr einen aussichtslosen Unterhaus-Wahlkampf zu führen. Nach neuesten Umfragen liegt Labour bei 22 Prozent - drei weniger als die Liberaldemokraten und 18 weniger als die Tories. Bei den Europawahlen könnte Labour sogar auf dem vierten Platz landen - hinter der rechten, europaskeptischen United Kingdom Independence Party (UKIP), die von manchen sogar an zweiter Stelle hinter den Konservativen und vor Labour und den Liberalen gesehen wird.
Smith kam mit der Rücktrittserklärung, die sie gestern bestätigte, ihrer Entlassung zuvor. Sie ist tief in den Spesenskandal verwickelt, der das britische Unterhaus seit Wochen beschäftigt und alle im Parlament vertretenen Parteien betrifft. Die Innenministerin hatte die Pornofilme ihres Mannes als Spesen abgerechnet; dies war schon vor Monaten bekannt geworden. Regionalministerin Blears hatte Kapitalertragssteuern hinterzogen und jede Reue abgelehnt.
Die Spesenaffäre ist damit noch lange nicht vorbei. Schatzkanzler Alistair Darling, Außenminister David Miliband, Gemeindeministerin Hazel Blears, Transportminister Geoff Hoon und der Staatssekretär für die Armee, Bob Ainsworth, sind ebenfalls darin verstrickt. Möglicherweise wird auch Scotland Yard Ermittlungen aufnehmen, weil es sich bei vielen Spesenabrechnungen nicht um Kavaliersdelikte, sondern um handfesten Betrug handelt.
Browns bevorstehende Kabinettsumbildung, die Stärke demonstrieren sollte, wird ihm nun als Schwäche ausgelegt werden. Der Tory-Abgeordnete Ben Wallace, der Jacqui Smiths Spesenabrechnung öffentlich gemacht hatte, sagte: "Die Regierung fällt auseinander. Die Ratten verlassen das sinkende Schiff, ohne den Premierminister vorher zu informieren, wie es scheint."
Gesundheitsminister Alan Johnson, der als aussichtsreichster Brown-Nachfolger gehandelt wird, prophezeite der Labour-Partei die schwerste Niederlage ihrer Geschichte. Labour könnte die Kontrolle über sämtliche Bezirksverwaltungen verlieren. Es ist kaum vorstellbar, dass die Labour Party mit einem Premierminister, der als "lahme Ente" gilt, in den Wahlkampf für die Unterhauswahlen 2010 geht.
Die Scottish National Party (SNP) und die walisische Plaid Cymru wollen am nächsten Mittwoch den Antrag stellen, das britische Parlament aufzulösen und sofortige Neuwahlen auszurufen. "Es gibt kein vernünftiges Argument dagegen, dass sich alle Unterhausabgeordneten dem Votum der Menschen stellen, die sie gewählt haben", sagte SNP-Fraktionsführer Angus Robertson. Aussichten auf Erfolg hat der Antrag kaum, denn in diesem Fall werden die Labour-Abgeordneten zusammenhalten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um Termin für Bundestagswahl
Vor März wird das nichts
Bewertung aus dem Bundesinnenministerium
Auch Hamas-Dreiecke nun verboten
Solidaritätszuschlag in Karlsruhe
Soli oder Haushaltsloch
Wirbel um Berichterstattung in Amsterdam
Medien zeigen falsches Hetz-Video
Ringen um Termin für Neuwahl
Wann ist denn endlich wieder Wahltag?
Belästigung durch Hertha-BSC-Fans
Alkoholisierte Übergriffe im Zug