piwik no script img

„Essen kann zur Sucht werden“

Viele Übergewichtige versuchen, mit Essen ihre Ängste in den Griff zu kriegen, sagt Sylvia Baeck vom Verein Dick & Dünn. Wer abnehmen will, muss seinen ganzen Lebensstil umstellen – und Verantwortung für sich übernehmen

taz: Frau Baeck, wann ist ein Mensch dick?

Sylvia Baeck: Unter medizinischen Aspekten gilt ein Mensch mit einem Body-Mass-Index um die 27 als dick. Für den Einzelnen definiert sich „dick“ nach der eigenen Befindlichkeit. Magersüchtige Frauen empfinden sich meist als dick, tatsächlich Übergewichtige häufig als normal. Sich dick fühlen ist sehr subjektiv. Da spielen Fragen eine Rolle wie: Mit wem vergleiche ich mich, wie selbstbewusst bin ich.

Etwa 65 Prozent der Bevölkerung gelten als übergewichtig. Warum fällt es vielen Menschen so schwer, Normalgewicht zu halten?

Bei etwa 60 Prozent der Betroffenen liegt eine genetische Disposition vor. Sie haben es damit sehr schwer, auch bei einer relativ geringen Kalorienzufuhr ihr Gewicht zu halten. Bei anderen steht Essen für mehr als für Sättigung. Es steht für den Versuch, Gefühle mit Essen zu kompensieren. In solchen Fällen kann Essen auch zur Sucht werden.

Warum sind Diäten wenig hilfreich?

Diäten sind die Einstiegsdroge für Essstörungen. Es ist schließlich nicht damit getan, die Energiebilanz kurzfristig wieder in Ordnung bringen, nur um dann wieder zuzunehmen. Die Betroffenen wissen ja, was sie zu essen haben und dass vieles für sie schlecht ist. Sie können das aber trotzdem nicht regulieren. So beantworten viele Übergewichtige Ängste mit Essen. Es gibt Übergewichtige, die befürchten zu verhungern, was total irrational ist. Doch dahinter steckt die Angst, sie könnten emotional verhungern.

Erfolgreich abnehmen beansprucht also viel Zeit …

… und die Frage ist, ob man den Fokus wirklich auf die Gewichtsreduzierung legt. Ein Erfolg ist immer auch schon eine Gewichtsstabilisierung. Im Vordergrund steht, dass die Betroffenen erkennen, was mit ihnen los ist, sich nicht verurteilen dafür, wie sie sind, sondern für sich ein anderes Selbstverständnis entwickeln, in kleinen Schritten auf eine Lebensstilveränderung hinarbeiten. Es ist ein mühsamer Weg. Aber viele, die es schaffen, kriegen häufig auch mehr in ihrem Leben geregelt, weil sie Verantwortung für sich übernommen haben.

Wie sollten Eltern reagieren, wenn ihre Kinder zu viel essen?

Sie sollten keinesfalls kontrollierend eingreifen, denn das führt meist zu Heimlichkeiten. Es muss genau analysiert werden: Welchen Grund könnte das Kind haben? Nimmt es sich etwas, was es anders nicht bekommen kann? Braucht es mehr Zuwendung? Kommt es irgendwo zu kurz? Oft haben Eltern auch übersteigerte Vorstellungen und setzen sich sehr unter Druck, ein schlankes Kind zu „produzieren“. INTERVIEW: VERONIKA DE HAAS

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen