: Bombenalarm in Kreuzberg
Aus Furcht vor der Zwangsräumung seiner Wohnung droht ein 49-Jähriger in Kreuzberg, sich in die Luft zu sprengen. Die Polizei evakuiert daraufhin zwei Schulen und eine Kita. Ein Nachbar berichtet
VON CLEMENS NIEDENTHAL
Um 13 Uhr ist wieder alles ruhig vor der Manteuffelstraße 7, ein gelber Altbau, übrig geblieben nach Bombennächten und Sanierungswut. Ein privater Nachrichtensender rollt das letzte Kabel ein. Ein Schließdienst repariert ein Schloss. Die vermisste Katze ist auch wieder aufgetaucht. Ein wenig zittrig, was wohl am nasskalten Wetter an diesem Vormittag gelegen hat. In einer Parklücke steht ein letzter Streifenwagen, platziert für den unmöglichsten aller Fälle: Der Mann, auf den man dort wartet, wird wohl nicht mehr in seine Wohnung zurückkehren.
Rückblende: Um fünf nach neun Uhr morgens klingelt die Polizei an den Türen, an meiner Tür. Schnell solle man die Häuser verlassen, es gebe eine Bombendrohung, Evakuierung. 400 Kinder aus einer angrenzenden Grundschule kommen im Künstlerhaus Bethanien unter, 35 aus einer Kita in der nahen Thomaskirche. Die Anwohner warten auf einer Grünfläche. Was nimmt man mit in so einem Moment? Laptop, Autoschlüssel, den Lieblings-Dufflecoat.
Um Viertel nach neun füllt sich die Straße: mehr Polizisten, ein Krankenwagen, ein erster Kameramann, noch ohne Auftraggeber. Hat wohl einer den Polizeifunk abgehört. Und es häufen sich die Spekulationen, häuft sich der Erklärungsbedarf. Wer wohnt da eigentlich, im Haus nebenan? Ein Bombenleger?
Tobias, ein Schauspielschüler, hat seine Trompete in die Satteltaschen gepackt. Vom Mann aus dem Erdgeschoss kennt er nur einen Spitznamen. Wie vermutlich alle im Haus. Manchmal habe er ihm Bücher in den Briefkasten gesteckt, weil er wohl gerne gelesen hätte. Im vergangenen Jahr dann habe man den Mann kaum mehr im Hausflur getroffen. Im Nachbarhaus kennt man nicht einmal ein Gesicht zur Schlagzeile von morgen.
Irgendwann vor 10 Uhr biegt ein blauer Transit um die Kurve. Die Gasag kommt mit Blaulicht. sie kappt ihre Leitungen. Weißgrüne Mannschaftswagen drängeln sich in der Köpenicker. Insgesamt 100 Beamte sind im Einsatz. Ob das denn alles nötig sei, fragen sich die ersten Anwohner, ein wohl typischer Kreuzberger Reflex. Ob nicht viel früher viel mehr nötig gewesen wäre, fragt Anja, die evakuierte Kulturwissenschaftlerin. Für diesen Vormittag sei die Zwangsräumung des 49-jährigen Mieters angeordnet gewesen, berichtet Kai Nolle, an diesem Vormittag die Stimme der Polizei. Kurz vor neun habe der Mann von einer Telefonzelle aus die Polizei alarmiert. Auch in einem „orthografisch nicht korrekten“ Brief habe er von Handgranaten und einer Tellermine gesprochen.
Um halb elf übersteigt die Zahl der Pressevertreter beinahe die Zahl der aus dem Weg geräumten Mieter. N 24 und RBB übertragen live. In der Manteuffelstraße 5 wird noch ein Schäferhund vermisst. Sein Name gleicht dem Spitznamen des vermeintlichen Bombenlegers.
Kurz vor elf detonieren zwei Blendgranaten. Spitzhacken zertrümmern die alten Speichenfenster. Vermummte Beamte des Spezialeinsatzkommandos (SEK) springen vom Dach eines Kleinbusses in das Dunkel der Wohnung im Erdgeschoss. Gefunden hätten sie eine Holzkiste, an der ein Handy befestigt war, was der Polizeipressesprecher nicht einmal halbherzig dementieren will. Der 49-Jährige selbst war nicht da, ist „flüchtig“.
Um 13 Uhr packt der letzte Sender seine Kabel ein. Rotweiße Absperrbänder markieren den Ort des Geschehens. Ein Berg plastikweißer Kaffeebecher markiert den Ort, von wo aus gefilmt und fotografiert wurde. Unter Ausschluss der medialen Öffentlichkeit wird der 49-Jährige mit den Mietschulden kurz vor 14 Uhr an einem Ausgang des Volksparks Hasenheide festgenommen. Er trägt eine Spielzeugpistole bei sich und ist laut Polizei so betrunken, dass er zunächst nicht vernommen werden kann.
Ihm drohen neben der Zwangsräumung mehrere Anzeigen wegen des Missbrauchs der Notrufleitungen und Verstoßes gegen das Sprengstoffgesetz. Hinzu kommen die Kosten für den Großeinsatz der Polizei.
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