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Essay zu Türkei und EuropaLeiche des Kalten Krieges

Eine Genese der Konflikte im östlichen Mittelmeerraum liefert Perry Andersons fulminante Aufklärungsschrift "Nach Atatürk. Die Türken, ihr Staat und Europa".

Perry Anderson schöpft aus einer Fülle von Wissen, das der Öffentlichkeit fehlt. Bild: dpa

Das Ende des Kalten Krieges hat zwar nicht Schwerter in Pflugscharen, aber unsinkbare Flugzeugträger in Ferieninseln verwandelt. Nicht ganz: Zypern - die geteilte Insel im östlichen Mittelmeer mit Nikosia, der zerschnittenen Hauptstadt - an diese Leiche des Kalten Krieges, die das zusammenwachsende Europa zu vergiften droht, erinnert Perry Anderson in seinem Essay "Nach Atatürk. Die Türken, ihr Staat und Europa".

Man könnte Perry Anderson den Mick Jagger der britischen New Left nennen. Seit den frühen sechziger Jahren hat er in der New Left Review mit einer fabulösen Redaktion - die nicht wie die inzwischen berühmten britischen Historiker der vorigen Generation (Eric Hobsbawm und andere) noch aus der politisch bedeutungsarmen Communist Party hervorgegangen war - die Welt aus einer linken Perspektive einer internationalen Leserschaft zur Anschauung gebracht.

Die Metropole London war und ist ein idealer Beobachtungsposten für eine kosmopolitische Weltsicht. Andersons Studien - vom Absolutismus bis zum "westlichen Marxismus" - wurden Meilensteine.

taz

Dieser Text ist aus der aktuellen sonntaz vom 1./2.8.09 - ab Sonnabend zusammen mit der taz am Kiosk erhältlich.

Und was er periodisch im London Review of Books als politische Essays publiziert, muss man einfach gelesen haben. Der Berenberg Verlag macht mit "Nach Atatürk" dem deutschsprachigen Publikum eine dieser Andersonschen intellektuellen Maxi- LPs zugänglich.

Perry Anderson schöpft aus einer Fülle des Wissens, die der Öffentlichkeit fehlt. Wer weiß schon, dass der griechische Teil Zyperns schon Mitglied in der EU ist und mit einem Veto die Aufnahme der Türkei blockieren könnte.

Für die EU hat Anderson mehr als britische Skepsis übrig - oft gar Verachtung für die tagespolitische Flickschusterei. Um möglichen Beifall von der falschen Seite, von der turkophoben europäischen Reaktion, kümmert er sich nicht. Er untersucht die Genese der Konflikte im östlichen Mittelmeerraum, die aus dem Zerfall des Osmanischen Reiches und dem machtpolitischen Bedeutungsverlust des Empire verstanden werden muss.

Der Aufstieg der modernen Türkei ist untrennbar mit der Figur Kemal Atatürks verknüpft; der Kemalismus scheint Integrität und Modernität einer Türkei zu verbürgen, an deren Wiege ein Völkermord stand und deren Geschichte von ethnischen Säuberungen und Zwangsassimilierungen von Griechen und Kurden begleitet wurde.

Es ist ein Verdienst Andersons, auf die unermüdliche, lange ignorierte Arbeit von kritischen Türken wie Taner Akcam zum Genozid aufmerksam zu machen; auch die im Ausland kaum bemerkten oder längst vergessenen pogromistischen Vorfälle in Istanbul und Ankara 1955 sind von in Deutschland arbeitenden türkischen Intellektuellen aufgearbeitet worden. Anderson kennt sie und macht sie einer größeren internationalen Öffentlichkeit bekannt. Auch 1955 war der Streit um Zypern, die Rolle der türkischen Minderheit zum Instrument einer nationalistischen Integrations- und ethnischen Homogenisierungspolitik geworden.

Die Beschreibung der Konfliktkomplexität gelingt Anderson. Aber die komplizierte Konstellation an der Schnittlinie von Europa und dem Nahen Osten verlangt auch nach theoretischer Reflexion, nicht nur nach aufmerksamer Beobachtung. In Deutschland wird angloamerikanischen und besonders britischen Intellektuellen das Attribut "marxistisch" zugestanden, um ihre Distanz zum akademischen Mainstream zu würdigen.

Bei Perry Anderson überzeugt der politische Weitblick, der die Informationstrümmer zerfallender Reiche zu ordnen weiß. Doch die Beobachterposition rückt den neuen Linken in die Nähe zur alten Linken, die aus dem Marxismus ein methodologisches Bekenntnis machte - ein Marxismus ohne Gesellschaft, die nur in der gespaltenen Gestalt von Ökonomie und Ideologie vorkommt.

So sieht Anderson in dem völkermordenden Massaker an den Armeniern und der Massenvernichtung an den europäischen Juden nur vergleichbare Genozide, die von unterschiedlichen Ideologien motiviert gewesen seien - die strukturelle Differenz von Antisemitismus als Part eines missglückten Griffs nach der Weltmacht und türkischem Ideal ethnischer Homogenität als Teil einer barbarischen Integration verschwindet.

Man kann aber erst beginnen, über den Schrecken nachzudenken, wenn man die unterdrückten Fakten zur Kenntnis nimmt. Und die liefert Perry Anderson auf eindrucksvolle Weise.

Perry Anderson: "Nach Atatürk. Die Türken, ihr Staat und Europa". Aus dem Englischen von Joachim Kalka. Berenberg Verlag, Berlin 2009, 183 Seiten, 19 Euro

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2 Kommentare

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  • S
    socursu

    Bin ich jetzt versehentlich auf der Satire- Seite gelandet?

    "schöpft aus eienr Fülle des Wissens, die der Öffentlichkeit fehlt." - und als Beispiel dann die EU- Mitgliedschaft der Republik Zypern?

    Komme mir verarscht vor; wenn Herr Claussen Anderson für eine Luftpumpe hält, kann er das ruhig offener tun.

  • K
    Küstenstelze

    Es gibt Tausende einander widersprechende Schriften zu dem obigen Thema. Auch mit 'politischem Weitblick' ist Perry Anderson nur einer unter Vielen.

    Die zum Teil zwanghaften Reformen der frühen Republik wie den Alphabet-Wechsel, also eine Sprachreform, prägen bis heute das autokratische Regierungs- und Verwaltungshandeln sowie das Selbstverständnis der türkischen Gesellschaft. Auch wenn es so interpretiert werden könnte, dass Atatürk damit einen weiteren Schritt in den Westen vollzogen hätte, ist das nur die halbe Wahrheit.

    Und was wir nicht wahrhaben wollen: Im Mittelpunkt steht die nicht selten schwierige Beziehung zwischen dem türkischem Nationalismus und dem Islam. Aber nicht derart, wie wir das gern hätten, um mit dem Finger auf die Türken zeigen zu können.