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Radikales SparprogrammIn Lettland gehen die Lichter aus

Im Land mit der größten Rezession Europas kollabiert das Gesundheits- und Bildungswesen, weil die Regierung IWF-Auflagen einhalten muss

Lettland ein Sparprogramm diktiert: Internationaler Währungsfonds (IWF). Bild: dpa

STOCKHOLM taz Die Notaufnahme von Lettlands wichtigstem Krankenhaus ist schon seit Montag dicht, bis Monatsende sollen alle 570 Angestellten von Rigas "Hospital Nummer eins" (Rgas Pirma Slimnca) ihre Kündigung bekommen. Ende des Jahres wird es als eines der ältesten und mit 650 Betten größten Krankenhäuser Lettlands ganz dichtmachen. Und das ist nur eins von 32 der derzeit noch 56 Krankenhäuser im ganzen Land, die schließen sollen. Lettlands Gesundheitswesen ist auf dem Weg ins Chaos.

Die EU und der Internationale Währungsfonds (IWF) wollen es so. Zur Abwendung eines Staatsbankrotts hatten sie Lettland Ende vergangenen Jahres eine Kreditzusage über insgesamt 7,5 Milliarden Euro gemacht. Das entsprach damals einem Drittel des Bruttoinlandsprodukts. Die Bedingung: Das Land solle sich aus der Finanz- und Wirtschaftskrise sparen. Das Defizit des Staatsbudgets dürfe die Grenze von 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht übersteigen. Als die Regierung in Riga dieses Ziel trotz mehrerer Kürzungsrunden nicht erreichte, sperrte der IWF im März die Auszahlung einer Kredittranche in Höhe von 200 Millionen. Nun gehen in Riga die Lichter aus. Angesichts eines Rückgangs der Wirtschaftsleistung um 18 Prozent im ersten und sogar 19,6 Prozent im zweiten Quartal 2009 und entsprechend gesunkener Steuereinnahmen haben IWF und EU mittlerweile zwar einerseits die erlaubte Defizitgrenze auf 8 Prozent erhöht, andererseits den öffentlichen Sektor des Landes aber im Prinzip unter ihre Verwaltung gestellt. Die Regierung darf ohne Konsultation mit dem IWF keine Entscheidungen mehr treffen, die Auswirkungen auf die Staatsausgaben haben. Sonst sind die nächsten Kredittranchen gefährdet. Um diese Bedingungen zu erfüllen, werden nun Schulen und Krankenhäuser geschlossen, tausende LehrerInnen und MitarbeiterInnen des Gesundheitssektors entlassen.

"Lettland bedeutet für Europa offenbar nicht viel. Wir werden alleingelassen und können nicht einmal mehr selbst entschieden", sagt Gunta Ana von "Sustento", dem lettischen Dachverband der Patientenorganisationen: "Wir haben an die EU geschrieben und unsere verzweifelte Lage geschildert, aber nur nichtssagende Antworten erhalten." Ana berichtet, wie sich die Budgetkürzungen zusammen mit teilweise halbierten Löhnen und einer sprunghaft gestiegenen Arbeitslosigkeit auswirken: Viele Menschen könnten sich keine Medikamente mehr leisten; wenn sie erkranken, verlassen sie oft nach wenigen Tagen und gegen ärztlichen Rat das Krankenhaus, weil sie kein Geld für den Eigenanteil haben. Der beläuft sich derzeit auf umgerechnet 18 Euro am Tag - für viele Rentner und Mindestlohnempfänger mehr als ein Zehntel ihres Monatseinkommens. Und dieser Eigenanteil soll nun sogar auf täglich 50 Euro erhöht werden.

Seit Juli sind alle Herz- und Gefäßoperationen gestoppt, soweit sie nicht zur Behebung eines lebensbedrohlichen Zustands zwingend sind. Ebenso wie alle Knie- und Hüftgelenkoperationen. Es sei denn, man kann 10.000 Euro selbst zahlen. Jedes Krankenhaus hat vom Staat eine bestimmte Quote von Operationen pro Monat bewilligt bekommen. Ist diese Quote erschöpft, soll nicht mehr operiert werden. Viele ÄrztInnen machen es trotzdem, um die Gesundheit ihrer PatientInnen nicht zu gefährden. Dafür werden dann oft die Medikamentenrechnungen nicht mehr bezahlt. Kürzlich drohte ein Arzneimittelgrossist einzelnen Krankenhäusern an, ihnen gar keine Medikamente mehr zu liefern. Deren Schulden beliefen sich nämlich mittlerweile schon auf fast 6 Millionen Euro.

Unter der Parole "Hände weg von unserem Krankenhaus" demonstrierten in vergangene Woche vor dem Gebäude des Gesundheitsministeriums hunderte ÄrztInnen, MitarbeiterInnen des Pflegepersonals und Auszubildende von Rigas "Hospital Nummer Eins". Schon jetzt verlassen laut einer Untersuchung der Ärztezeitschrift Latvijas rsts jeden Monat 20 bis 30 ÄrztInnen das Land. "In Europa werden die mit offenen Armen und einem viel höheren Lohn empfangen", sagt Latvijas-rsts-Chefredakteurin Kamena Kaidaka. "Die ärztliche Kompetenz und Zukunft des lettischen Gesundheitswesens sind ernsthaft bedroht."

Für Rigas "Krankenhaus Nummer eins" scheint es nicht nur keine Hoffnung zu geben. Fraglich ist, wie man dort überhaupt noch bis zum Jahresende wird offenhalten können. Vom Staat hat die Klinik für dieses Jahr ein Budget für die Behandlung von 16.035 PatientInnen bekommen. 14.070 davon waren bereits am 15. Juli ausgeschöpft.

"Im September kollabiert unser Gesundheitswesen, wenn es keine frischen Gelder bekommt", befürchtet Gesundheitsministerin Baiba Rozentale. Ihre "Volkspartei" droht jetzt, die Regierungskoalition platzen zu lassen.

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10 Kommentare

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  • G
    Gunter

    Die Malaise haben die Letten selbst zu verantworten. Da wurden u.a. Hunderte von Millionen in Prestigeobjekte wie Bibliotek und Megabrücke gesteckt, die vollkommen überteuert sind - vermutlich durch Inkompetenz und Korruption. Auf Staatsebene wird nach Möglichkeiten mit Hilfe undurchsichtiger Firmenkonstruktionen mit abkassiert.

     

    Die scharf-rechte Volkpartei hat diesmal mit dem Gesundheitsministerium leider eine Niete gezogen.

     

    Wohl damit die Volkspartei nicht weiter abkassieren kann, hat der IMF ein generellen Stop aller Private-Public Partnerships bei Infrastrukturprojekten verhängt.

     

    Die Wut hier in Riga geht gegen die Regierung und nicht EU und IMF, die mit ein paar Milliarden Lettland vor dem Bankrott bewahrt haben.

     

    Im übrigen war es schon immer gang-und-gäbe hier, dass Ärzte bestochen werden müssen, damit die überhaupt Operationen machen. Der neue Präsident, ein Arzt, hat gleich zu Beginn der Amtszeit seine Verfehlungen offengelegt.

     

    Also, alles halb so schlimm. Wer das Ende der Sowjetunion überstanden hat, sieht das ganze mit Gelassenheit. Und danke nocheinmal für die 5 Milliarden Nothilfe.

  • S
    Sven

    Liebe taz-Redaktion,

     

    es ist ja sehr schön, wenn etwas über das Baltikum, wo die wirtschaftliche und soziale Lage dramatisch ist, geschrieben wird (i.d.R. findet man dt-sprachige Hinweise nur in österreichischen Zeitungen).

     

    Aber es ist nicht schön, wenn die ideologischen Scheuklappen saubere Recherche und Folgerungen unmöglich machen. Kommentator David hat ja schon beschrieben, dass die IMF-Schelte hier nix taugt, außer den eigenen Vorurteilen Zucker zu geben. Ich kann mich dem nur anschließen und empfehle eurem Redakteur zusätzlich einen Blick nach http://latviaeconomy.blogspot.com.

     

    Ich kann auch nur noch darauf hinweisen, dass es sehr spannend wäre zu untersuchen, wer derzeit vom enorm subventionierten Wechselkursverhältnis profitiert -- ein Hinweis: Es hat nicht jeder Lette einen Kredit im Fremdwährung abgeschlossen. Derzeit ist es sogar so, dass diejenigen Bevökerungsschichten, die keine oder nur sehr geringe Kredite im Fremdwährungen aufgenommen haben, nun die enormen sozialen Verwerfungen tragen müssen, die die Aufrechterhaltung des PEG kostet. D.h. die eh sozial Schwachen bezahlen den perversen Boom der Jahre zuvor und sorgen dafür, dass die Profiteure (in Lettland oder Skandinavien) nicht zu viel Geld verlieren. *Das* war *keine* Vorgabe des IMF, sondern eine politische Entscheidung der lettischen Regierung. Warum auch immer, das herauzufinden bzw. zu beschreiben, das wäre die journalistische Herausforderung. Sicherlich, auch eine Anpassung des Wechselkurses wäre riskant -- sowas für Leser durchsichtig zu machen, wäre ebenfalls Aufgabe guten Journalismus'. Dafür müsste man ideologische Scheuklappen aber auch mal ablegen können/dürfen.

  • D
    Dunkelelfe

    Tja ...

    Soviel zum Thema "Die EU und die Bürgernähe" ...!!!

  • PB
    Peter Bitterli

    Der amerikahörige Fahnenwechsel der Neunziger wird den Balten noch leid tun.

  • M
    manfred (57)

    Eine eindrucksvolle Demonstration, was in der EU der Mensch dem Menschen wert ist.

  • A
    asd

    DAS PASSIERT UNS AUCH BALD!!

    man kann doch jetzt schon fast ausrechnen das unser defizit in4-5 jahren auch so gross ist das wir nicht mehr als kredidwürdig eingestuft werden!!

    wir haben im moment ein 5.9% defizit und unsere staatsschulden betragen 1.640 mrd.€das sind rund 66% des bip... nicht mehr lang.. nicht mehr lang...

     

    und sind die ganzen kosten der wirtschaftskriese noch nicht drinn...

  • T
    Traurig

    @Simona Asam

    Doch, das stimmt schon. Der Korrespondent der für Lettland zuständig ist wird wohl in Stockholm sitzen.

  • T
    tUNA

    Gefährliche Situation dort oben. Das da mal nicht der Wunsch nach nem starken Mann laut wird.

     

    Es ist auch wirklich sehr traurig, das Gesundheit und Bildung so stark unter der Krise leiden müssen.... Das bedeutet enorme Rückschritte für Lettland.

     

    Die EU und der IWF sollten in die Presche springen und mehr Gelder fliessen lassen. Die fehlen dann zwar an anderen Stellen, aber dafür gibts die Europäische Gemeinschaft schließlich. Wenns einem Land echt scheiße geht, sollten die anderen Ländern denen es nur "nicht ganz so gut" geht sich für das kleine Land stark machen.

  • D
    David

    Artikel, die das wirtschaftliche Drama in den baltischen Staaten beleuchten, sind ja an und für sich begrüßenswert. Aber der Vorwurf, der böse IWF würde hier die Kontrolle über das Land übernehmen und es zu übertriebenen Kürzungen treiben, ist leider falsch:

    1. Zuallerst war es die lettische Regierung (mit Unterstützung der EU Kommission), die beschlossen hat, das außenwirtschaftliche Ungleichgewicht ohne Aufhebung des Pegs zu bewältigen. Da bleibt nunmal nichts anderes übrig als "interne Abwertung" - also Deflation von Preisen und Löhnen. Der IWF stand diesem Ansatz von allen Beteiligten mit Abstand am kritischten gegenüber und auch die Verzögerung der Auszahlung der nächsten Tranche hatte damit zu tun.

    2. Sagt sich im Rückblick recht leicht: Die hohen Leistungsbilanzdefizite der Vorkrisenzeit hätten alle Alarmglocken angehen lassen sollen, und zwar in erster Linie bei den lettischen Verantwortlichen. Um die Politik des IWF und seine Mitverantwortung genau zu klären, müsste man sich mal die Berichte der Artikel IV Konsultationen der letzten Jahre angucken.

    Eine Feuerwehr ist zwar bei jedem Brand zur Stelle, verursacht hat sie ihn damit aber noch lange nicht...

  • T
    Tagedieb

    Tja, so wird ein Land innerhalb weniger Monate auf den Stand eines Entwicklungslandes gebracht. Gratualtion, IWF und Europäische Union. Und das im wesentlichen deshalb, weil IWF, EU und die lettische Regierung eine Abwertung des Lats als viel beschämender empfinden als das gesamte Gesundheits- und Sozialwesen kollabieren zu lassen. Willkommen in der Dritten Welt!

     

    Einer der Gründe für dieses radikalen Absturz bzw. die Unfähigkeit des lettischen Staates, hier mit eigenen Ressourcen gegenzusteuern, wird nicht mal ansatzweise diskutiert. Nämlich die ach so tollen niedrigen Steuersätze des Landes, die dem Staat letztlich keinerlei finanzielle Schwungmasse beschert hat, um in Situationen wie dieser mit Konjumturprogrammen gegensteuern zu können.