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Essay: China und EuropaDie schwangere Frau des Westens

Die Verurteilung Chinas ist scheinheilig - besser wäre es, das Land als Gradmesser zu sehen, ob der Welt die Wende hin zu einer neuen Zivilisation gelingen wird.

Bauten von der Olympiade 2008. Links die Schwimmhalle, dahinter das Stadion. Bild: guidofoc - Lizenz: <a href="http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/deed.de">CC-BY-SA

Als ich vor sieben Jahren nach China kam und mir die Situation des Landes vor dem Hintergrund der globalen Krise anschaute, kam mir der Vergleich Chinas mit einer schwangeren Frau in den Sinn. Jahre später kann ich diese Metapher nur bekräftigen, denn sie erscheint mir dem gegenwärtigen Zustand Chinas angemessen und ist die einzige realistische und ehrliche Art und Weise, China kritisch zu begegnen.

Die politischen Regime des Westens sind demokratisch und pluralistisch, aber die Ordnung, die sie weltweit verteidigen, ist diktatorisch und von Gewalt geprägt. Ihre politische Hegemonie und das Agieren ihrer transnationalen Unternehmen stellen für die Mehrheit der Weltbevölkerung etwas Ähnliches dar wie die Einparteiensysteme, die in den Diktaturen etlicher Staaten des Südens existieren.

Die eigene Unvollkommenheit anerkennen

China zeichnet sich durch große Kontraste aus. Es ist eine Diktatur und zur gleichen Zeit ein "offenes System", weil es dazu imstande ist, die eigene Unvollkommenheit anzuerkennen. Die Mehrheit der westlichen Kritiker sieht dies als Defekt. Aber das chinesische System hat wenig mit Stagnation zu tun: Diese "kommunistische Diktatur" hat sich wie keine andere auf der Welt in den letzten 60 Jahren verändert.

privat

Rafael Poch-de-Feliu ist Deutschland-Korrespondent der spanischen Tageszeitung La Vanguardia. 1980-1983 war er Spanien-Korrespondent der taz, später 20 Jahre lang Korrespondent von La Vanguardia in der UdSSR/Russland und China. Im März 2009 erschien im spanischen Planeta-Verlag sein Buch "Die Aktualität Chinas" (La actualidad de china). Dieser Beitrag basiert auf dem Epilog des Buches, und wird von der taz in deutscher Erstübersetzung veröffentlicht.

China unterscheidet sich darin sehr vom alten sowjetischen System der Vor-Gorbatschow-Zeit, das sich als perfekt erachtete. Es unterscheidet sich ebenso sehr von den westlichen Demokratien, die sich gewöhnlich als die bestmöglichen Systeme präsentieren.

Die Aktualität Chinas

Die Aktualität Chinas rührt daher, dass es am deutlichsten mit dem Dilemma globaler Probleme befasst ist: das sind Probleme der Demografie, der natürlichen Ressourcen, der Umwelt. Die Hoffnung, die China in einer so komplizierten Welt hervorruft, ist, dass das Land zu einer nachhaltigen Integration und Vereinigung des Planeten beiträgt, ehe es zu spät ist. Die 30er, 40er und 50er Jahre dieses Jahrhunderts werden entscheidend sein für die Frage, ob die Wende zu einer neuen Zivilisation gelingt. Wenn China etwas einfällt für das, wie wir überleben können, werden wir alle davon profitieren.

Beobachtet man China im Kontext der globalen Krise, dann ist die Metapher von der schwangeren Frau sehr nützlich. Ein sich entwickelndes Land mit Charakteristiken wie China oder Indien - große Bevölkerung, eine eindrucksvolle zivilisatorische Tradition und ein grundlegender komplexer Wandel - , gleicht einer schwangeren Frau. Sein sozialer Organismus durchlebt einen sensiblen Prozess, der nach spezieller Aufmerksamkeit und Sorge verlangt.

Die Transformation von einer traditionell bäuerlichen in eine mehrheitlich urban geprägte Gesellschaft entspricht in der Tat "hormonellen Transformationen". Es ist ein grundlegender Wandel, ein Wandel der Werte und Leitbilder. Er umfasst Spannungen und Unwägbarkeiten zwischen dem Traditionellen und dem Heiligen, zwischen dem Neuen und dem Unvermeidbaren. Für die davon betroffene Bevölkerung ist es eine Reise ins Ungewisse. Für die Politiker, die diesen Prozess begleiten, birgt er unendlich viele Risiken und Gefahren.

Ein Land, das sich entwickelt

Einem Land, das sich entwickelt, kann man wie einer schwangeren Frau bestimmte Leistungen, Pflichten und Verhaltensweisen nicht abverlangen. Die Idee ist vielmehr: Wenn uns im Bus ein solches Wesen begegnet, bieten wir ihm ihm unseren Sitzplatz an.

Diese Geste darf nicht mit paternalistischer Herablassung, Naivität oder (positiver) Geschlechterdiskriminierung verwechselt werden. Sie basiert vielmehr auf biologischen Gesetzen, auf universellen Werten, auf historischen Erfahrungen und ist vor dem Hintergrund der globalen Krise gerechtfertigt. Es geht auch nicht darum, Diktaturen Immunität oder einen Freischein auszustellen. Die Umstände, von denen wir sprechen, befreien nicht von allgemeiner Verantwortung, genau so wenig wie eine Schwangerschaft eine Frau über das Gesetz stellt.

Vor noch nicht allzu langer Zeit waren wir in Spanien ein "Entwicklungsland" - mit einer Diktatur, einem Einparteiensystem, einer bäuerlichen Mehrheitsgesellschaft und einer patriarchalen Logik, die über der Logik der Gesetze stand. Wenn wir uns also unserer eigenen Vergangenheit erinnern, fällt es uns sicher leichter als anderen in Europa und Nordamerika, der Schwangeren eine aufrichtige Geste des Respekts und der Anerkennung entgegenzubringen.

"Offene" Diktaturen

Hat die Schwangeren-Metapher für China allein deshalb Gültigkeit, weil es ein Land ist, das sich entwickelt? Dann müssten alle Entwicklungsländer wie Schwangere betrachtet werden. Und müssten dann nicht auch das Spanien Francos, das Chile des Generals Pinochet oder das Indonesien Suhartos, um nur drei Beispiele für Diktaturen zu nennen, unter diese Kategorie fallen?

In allen drei Fällen, so unterschiedlich die historischen und geografischen Gegebenheiten auch waren, mündeten die dikatorischen Regime in bessere, demokratische oder pseudodemokratische Situationen. Im spanischen Fall trug die national-katholische faschistoide Diktatur sogar zur Entwicklung und zum ökonomischen Wachstum des Landes bei. Ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre wurde das Regime nachsichtiger und brütete sogar einige der sozialen Prozesse aus, die die Diktatur für die Mehrheit der Gesellschaft fünfzehn Jahre später veraltet und nicht mehr akzeptabel erscheinen ließ. Unter der Beteiligung der Opposition schufen die Vertreter der Diktatur und ihre Institutionen die spanische Demokratie von 1977. Man könnte also das Francoregime fast als "offenes System" bezeichnen.

Gegenüber Katastrophen durchgesetzt

Um diese Dinge zu klären, muss man einigen Fragen nachgehen. Wo kam Spanien unter Franco, Indonesien unter Suharto oder Chile unter Pinochet her? In welchen Gesellschaften entstanden diese Diktaturen? Im spanischen Fall stülpte sich die Diktatur über eine demokratische Republik mit sozialer Orientierung. In Suhartos Fall über ein antikoloniales Regime. Im Fall von Chile über die Regierung der Unidad Popular von Salvador Allende. In allen drei Fällen töteten die Diktaturen Systeme, die "besser" waren.

Man könnte einwenden, das jedes dieser "besseren" Systeme, die durch die Diktaturen von Franco, Suharto oder Pinochet annulliert wurden, sich genau so gut in schlechte oder noch schlimmere Diktaturen hätten entwickeln können. Diese Hypothese ist so legitim wie die entgegengesetzte: Dass die gescheiterte spanische Republik in den 1930er Jahren die Utopie des europäischen Sozialismus hätte verwirklichen können. Die gleiche Diskussion könnte man in Bezug auf Chile oder Indonesien führen.

Im chinesischen Fall hat sich die Revolution, die eine kommunistische Diktatur gebar, gegenüber vielen Katastrophen durchgesetzt; gegenüber einem dekadenten Imperium, gegenüber einer nationalistischen und korrupten Diktatur, gegen eine Invasion des japanischen Militärs und eine koloniale Abhängigkeit vom Ausland. Die kommunistische Diktatur baut nicht, im Unterschied zu den anderen dreien, auf der Erbsünde auf, ein "besseres" System getötet zu haben. Das erklärt, warum es für die Chinesen, obwohl sie untereinander viel über ihre historische Vergangenheit und über die Bedeutung des Maoismus diskutieren und unzufrieden sein mögen mit den diesbezüglichen offiziellen Verlautbarungen, die besagen, dass Maos Erbe aus 70 Prozent "guten" und 30 Prozent "schlechten" Sachen besteht, sehr kompliziert ist, ihre Geschichte vor der Revolution als Alternative zur kommunistischen Diktatur zu sehen.

Die Interessen der Privilegierten

Die chinesische Diktatur weist Größen und Katastrophen auf. Sie stieß die Dekolonialisierung Asiens und anderswo an; sie versuchte, ein alternatives soziales System aufzubauen, das auf dem großartigen Ideal der Gleichheit und des solidarischen Teilens basierte; sie setzte eine geschwächte Nation in Bewegung - die größte Nation der Welt - und verbesserte seit den 1950er Jahren für die Mehrheit der Bevölkerung deren Lebensverhältnisse.

Sehr wenig, oder gar nichts, könnte man als mildernde Umstände im Fall der drei als Beispiel zitierten Diktaturen vorbringen. Das Wesen und Ziel dieser Diktaturen war es, die Interessen einiger Privilegierten vor gesellschaftlichen Ansprüchen zu retten und zur imperialen, kolonialen oder hegemonialen Disziplin einer ausländischen Macht zurückzukehren, oft war es eine Kombination dieser Dinge. Und was könnte man über die Aktualität, über die Bedeutung der Diktaturen Francos, Suhartos oder Pinochets sagen? Das Schicksal dieser Regime hatte für die jeweilige Bevölkerung dieser Nationen sehr große Bedeutung, aber für die Welt als ganzes war es ziemlich unwichtig. Hat all das heute etwas mit China zu tun? Wenn nicht, so haben wir den Unterschied, der der Metapher Sinn gibt.

Die globale Krise

In der Haltung, einer Schwangeren beziehungsweise diesem besonderen Land keinen Sitzplatz anzubieten, schwingen viele Dinge mit. Amnesie über unsere eigene Geschichte. Es gibt eine sehr europäische Unfähigkeit, sich in die Position desjenigen zu versetzen, der anders ist. Zudem gibt es altmodische kulturelle Vorurteile und Stereotype aus der Zeit des kalten Krieges, die sich heute mit den neuen Interessen vermischt haben, die aus ökonomischen Rivalitäten entstehen. Es gibt auch das Echo einer kolonial-imperialistischen Haltung. Und es geht um Wertefragen; es geht um das nicht vorhandene Bewusstsein über die globale Krise und die Bedeutung Chinas im Kontext dieser Krise.

Wenn wir den ersten Artikel der universellen Erklärung der Menschenrechte ernst nehmen, der besagt, dass alle Menschen gleich sind, dann kann der Dialog mit China nur möglich sein, wenn man ihn betrachtet als Chance für die europäische Sühne.

Aus dem Spanischen von Eva Völpel.

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4 Kommentare

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  • C
    Chris

    Der Autor hat in China gelebt. Das, was er schreibt, hat meiner Meinung nach nichts mit einer linken politischen Gesinnung zu tun, sondern damit, dass er das Land kennt.

    Die Methapher der schwangeren Frau ist sinnvoll. Es wäre diplomatisch klug mit den Chinesen so umzugehen. Es bringt nichts mit einem Land auf Konfrontationskurs zu gehen, in dessen Kultur es nichts schlimmeres gibt, als sein Gesicht zu verlieren. Das kann man deutlich an der Tibetkrise im letzten Jahr sehen. Die Europäer haben während dieser Zeit im Land der Mitte unheimlich an Ansehen verloren. Die Anti-China-Demonstrationen waren außerdem für Tibet alles andere als hilfreich.

    Ein positives Modell im Umgang mit China sind die Verhandlungen zwischen Groß Britannien und China über die Rückgabe der ehemaligen Kronkolonie Hongkong in den 1980er Jahren. Beide Staaten konnten hier ihr Gesicht wahren. Hongkong ging an China und dafür wurde dem Stadtstaat von den Chinesen ein Sonderstatus für 50 Jahre zuerkannt. (Natürlich wurde im Geheimen verhandelt und Demonstrationen blieben aus.) Solch ein diplomatisches Meisterstück hätte man letztes Jahr gebraucht. Die weltweiten Anti-China-Demonstrationen vor den Olympischen Spielen machten die Lage leider nicht besser.

    Ein Beispiel für das Verhalten in der chinesischen Kultur: Ein wahrer Freund kritisiert nicht. "Jemand, der mich kritisiert, ist nicht mein Freund." Diese Regel gilt in China im zwischenmenschlichen Bereich ganz selbstverständlich. Man übertrage das auf den zwischenstaatlichen Bereich!

    (Das mag für eine westliche Denkweise schier unverständlich sein. Aber es gibt eben noch kulturelle Unterschiede, die nicht einfach deshalb verschwunden sind, weil es Mc Donalds, Coca Cola und Adidas mittlerweile überall in China gibt und alle Menschen dort westliche Kleidung tragen.)

  • SG
    Skip Gan

    Eine fragwürdige und seltsame Argumentation, die in einer liberalen Tageszeitung eigentlich nichts zu suchen hat. Die Metapher von der schwangeren Frau ist sexistisch (das "Wesen", das einem im Bus begegnet...), die Belobung des Franco-Regimes lässt einem die Spucke im Mund gefrieren. Gut, dass die taz heute offensichtlich einen anderen Spanien-Korrespondenten hat (siehe biografischen Kasten im Artikel).

  • C
    Chrifloka

    Wenn der Autor schon so pragmatische Überlegungen anstellt, dann könnte man sich doch auch gleich fragen, welchen Beitrag die von den langjährigen Diktaturen in Chile, Spanien oder auch Südkorea zu verantwortenden gesellschaftlichen Entwicklungen insgesamt für die enorme wirtschaftliche und soziale Dynamik für den überwiegenden Teil der Bevölkerung, vor allem nach dem jeweils unblutigem Ende Ihrer Systeme, geleistet haben, von der China übrigens noch Lichtjahre entfernt ist. Könnte dies im Ernst für eine Mildbetrachtung von diktatorischen Regimen ausreichenn ?

    Es wird langsam etwas auffällig, wie sehr sich die TAZ im Falle China als Plattform für die Verbreitung einer grundpositiven Stimmung anbiedert. Ich werde das Gefühl nicht los, dass Maoismus und real erlittener Kommunismus im Allgemeinen eine überraschend große Halbwertszeit haben, irgendwie und irgendwo vor sich hinfaulen, immer wieder toxische Stinkwolken aufsteigen und somit die Endlagerfrage genauso wenige geklärt ist, wie die von Atommüll.

  • M
    Mike

    Typisch TAZ: wenn das Regime nur LINKS ist, dann sind alle Bluttaten plötzlich gar nicht so schlimm....