Katastrophen 2.0: "Leute, mir geht's gut"
Bei Katastrophen wie dem Erdbeben in Chile organisiert sich Hilfe über das Netz. Warum das Netz bei Katastrophen so erfolgreich ist und über welche Kanäle sich die Chilenen noch informierten, weiß Andreas Hetzer.
taz: Nach dem Erdbeben in Chile war in weiten Teilen die Infrastruktur zusammengebrochen. Die Menschen haben trotzdem kommuniziert und zwar über sogenannte Social Network Services (SNS). Warum werden soziale Netzwerke zur Hilfe verwendet?
Andreas Hetzer: Nach einem Erdbeben wollen alle ihre Bekannten und Freunde anrufen, sofern sie noch über ein Handy verfügten. In Chile war das Handynetz anfangs aber total überlastet und nicht alle Personen waren telefonisch erreichbar. Also haben viele in Facebook Nachrichten gepostet, "Leute mir geht's gut, mein Haus ist zerstört, aber ich habe überlebt". So halten sie ihre Freunde auf dem Laufenden.
Die Freunde allein reichen da aber nicht für einen wirklichen Effekt, oder?
Andreas Hetzer, 30, promoviert derzeit an der Universität Siegen über "Die Rolle von Medien in politischen Transitionsprozessen am Beispiel Boliviens". Zur Zeit des Erdbebens hielt er sich in La Paz, Bolivien, auf.
Nein. Die Zeitung El Mercurio und die Suchmaschine Google haben zudem Plattformen zur Verfügung gestellt, um Vermisste zu suchen. Es gab Fälle, wo Jugendliche oder Kinder eine Nachricht gepostet haben, "Meine Eltern müssten da und dort sein, kann sie bitte jemand ausfindig machen und ihnen sagen, wo ich bin." Leute auf der ganzen Welt, in Spanien, Norwegen oder Kanada, haben diese Nachrichten gelesen, und bei den Behörden angerufen, um die Gesuchten ausfindig zu machen. Wir haben es also mit Verbindungspersonen zu tun, die sich angeboten haben, andere zu finden. Ich kenne jemanden, der jemand anderes kennt usw. So funktionieren Netzwerke klassischerweise. Es gab relativ viele Erfolgsfälle und viele die sich berufen gefühlt haben, anderen zu helfen.
Wieso ist das Internet in Katastrophensituationen als Kommunikationsmittel so geeignet?
Ursprünglich wurde das Internet unter militärischen Gesichtspunkten entwickelt. Das US-Verteidigungsministerium wollte eine Kommunikationsinfrastruktur entwickeln, die auch in Fällen schwerer militärischer Zerstörung weiterhin funkionsfähig sein sollte. Und deshalb lässt sich das auf heutige Katastrophenszenarien übertragen, weil die Leistungsfähigkeit des Netzes durch die dezentralen Knotenpunkte auch bei Zusammenbrüchen in Teilen bestehen bleibt. Fällt also ein Server aus, springt ein anderer ein. Dazu kommt eben noch der mobile Internetzugang über PDAs, kleine tragbare Computer mit mobilem Internetzugang, die von der materiellen Infrastruktur vor Ort unabhängig sind. In dem Moment komme ich nach draußen, da kann ich etwas raus schicken und wenn es nur eine Twitternachricht ist. Die wird wiederum von anderen aufgegriffen und so weiter verbreitet.
Wer hat überhaupt Zugang zum Netz in Chile?
In Chile ist die Handynutzung sehr hoch, es ist einer der modernsten Staaten in der Region und hat eine unheimlich gute Breitbandabdeckung. In Santiago de Chile liegt sie bei 80 Prozent, das ist absolute Spitze in Lateinamerika. In Deutschland haben wir laut Forschungsgruppe Wahlen eine Breitbandabdeckung von 60 bis 70 Prozent. Und die Nutzbarkeit der SNS und anderer Social-Web-Anwendungen (z.B. YouTube oder MySpace) ist natürlich auch immer abhängig von der Leistungsfähigkeit der technischen Infrastruktur, hier speziell der Übertragungsrate. Die ist in Chile sehr gut und kann leicht mit Deutschland mithalten.
Ist man in Lateinamerika generell so gut ans Netz angebunden?
Hier muss man differenzieren. Der Zugang zum Internet hängt insbesondere vom Einkommen, Alter und in Lateinamerika vor allem auch von der Unterscheidung Zentrum-Peripherie ab. Es gibt immer noch große Ungleichheit beim Zugang zum Netz, Stichwort "Digital Divide". Digitale Kommunikation ist in Lateinamerika immer noch eine Elitenkommunikation, das ist in Chile besonders eklatant. Im Verhältnis zum Einkommen ist der Internetzugang in vielen Ländern immer noch ein Luxusgut, was sich in den Städten allerdings zu wandeln beginnt. In Chile, Argentinien oder Uruguay haben wir ein anderes Einkommensniveau und eine relativ breite Mittelschicht. Deshalb funktioniert die Hilfe in Katastrophensituationen über das Internet hier auch besser, als beispielsweise in Haiti, einem der ärmsten Länder des Kontinents. Denn diese sozialen Netzwerke im Internet tragen nur dann Früchte, wenn die Nutzung eine kritische Masse übersteigt.
In Lateinamerika werden traditionell vor allem die Radios stark genutzt. Was sind die Vorteile gegenüber dem Internet?
Das Radio hat nach dem Erdbeben eine wichtige Rolle gespielt, weil der Zugang zu einem Empfänger eher besteht. Sie können mit Batterie betrieben sein und sind somit nicht auf Stromversorgung angewiesen. Dazu kommt die kollektive Nutzung: Pro Gerät können gleich mehrere Leute hören. Im Notfall erhält man hier Anweisungen, wie man sich zu verhalten hat, ob es Nachbeben geben wird, wie die Lage in anderen Regionen aussieht usw. So trägt diese Kommunikation zur Vermeidung von Panik bei. In ärmeren Regionen Lateinamerikas ist die Radionutzung im Vergleich zu anderen Medien noch immer enorm, auch weil es auf verschiedenen Sprachen, zum Beispiel auf indigenden Sprachen sendet. Statistiken sagen, dass Radio eine hohe Glaubwürdigkeit genießt. Viele Menschen, "Leute von uns", kommen zu Wort, das wirkt authentisch. Aber ich kann mich im Radio weniger prominent einbringen als im Web 2.0. Hier kann jeder etwas posten und so zur Netzkommunikation beitragen. Natürlich, aber dadurch ist die Informationsflut kaum überschaubar. Es wird ja nicht mehr über Gatekeeper gefiltert, wie bei den Massenmedien. Das gilt vor allem für Twitter. Das Rote Kreuz in Chile twittert und hat etwa 20.000 Follower.
20.000 .. so viele sind das ja dann auch wieder nicht ...
Diese Zahl steigert sich um ein Vielfaches, wenn der Netzwerkeffekt zum Tragen kommt: dann nämlich, wenn jeder Follower wiederum über zahlreiche Anhänger und Freunde seines Twitteraccounts verfügt und Nachrichten retweetet, also über sein Netzwerk weiter sendet. Dadurch wird die Hilfe, Infos, die Suche nach Freiwilligen gut organisiert, zumal wir es beim Roten Kreuz mit einer vertrauenswürdigen Organisation zu tun haben. Das kann Panik vermeiden. Es kann aber auch genau der umgekehrte Fall passieren.
Wie das denn?
Wenn jemand einen Tweet schickt und schreibt z.B. "Es gibt wahrscheinlich sofort ein Nachbeben", dann kann das in kürzester Zeit um die Welt laufen und zu Massenpanik führen. Und der Wahrheitsgehalt der Information ist in einer solchen Katastrophensituation nicht ohne Weiteres nachprüfbar. Deshalb würde ich das als sehr ambivalent einschätzen. Es hängt immer auch von der Medienkompetenz der Nutzer solcher Technologien ab.
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