: Werbung ist die erste Bürgerpflicht
Werbung verklebt die Fenster von Bussen und Bahnen, verbirgt Baustellen, verhüllt Fernsehtürme und versteckt historische Fassaden hinter dümmlichen Motiven und Botschaften. Gerade in den Metropolen kämpft die Werbewirtschaft um jeden Quadratmeter öffentlichen Raum – auf Kosten der Bewohner
VON GIUSEPPE PITRONACI
Haben Sie schon Ihre Fenster vermietet? Ihr Küchenfenster könnten Sie beispielsweise mit Werbung für Spülmittel bekleben lassen. Es gibt spezielle Folien dafür, die den Raum nicht vollständig verdunkeln. In Zeiten knapper Kassen sollte man nicht auf solche Werbe-Einnahmen verzichten.
Wer das für undenkbar hält, der sollte mal wieder Bus oder Straßenbahn fahren. Dort ist genau dies seit einigen Jahren üblich: Fensterscheiben klebt man zu mit großen Werbefolien, die aus dem Wagen ein mobiles Riesenplakat machen. Das braust durch die Straßen und zieht die Blicke der Passanten auf sich. Die Fahrgäste im Wagen können Häuser und Menschen durch die gerasterte Werbefolie nur mühsam erkennen.
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Die Werbeindustrie plakatiert den öffentlichen Raum. Das ist nichts Neues. Was in totalitären Ländern staatliche Propaganda macht, besorgt hier die Privatwirtschaft: die Bürger mit einseitigen Behauptungen bombardieren. Monströse Buchstaben und fototechnisch aufgeblasene Industrieprodukte werden durch die Städte chauffiert, und sogar sanierungsbedürftige Kirchen verbergen sich hinter gigantischen Models – weil sich so die Kosten der Sanierung oder der Unterhalt für Busse und Bahnen eindämmen lassen.
Leonie Baumann mag das nicht gelten lassen: „Mit diesem Argument kann man gleich die ganze Stadt verkaufen“, sagt die Soziologin und Leiterin des Berliner Kunstvereins NGBK (Neue Gesellschaft für Bildende Kunst). Sie findet, dass Werbung gleichzeitig aggressiver und unauffälliger wird, weil sie immer weniger getrennt vom Stadtraum wahrgenommen werden könne: „Wenn ich in Berlin am Potsdamer Platz bin, ist es nicht klar, ob ich in einem kommerziellen, öffentlichen oder architektonischen Raum bin“, sagt Baumann. Wie am opulenten Times Square in New York verwischen die Grenzen zwischen kommerziellem und öffentlichem Raum.
In Berlin stellte die Technische Universität 2002 die Fassade eines denkmalgeschützten Hochhauses einer Werbefirma zur Verfügung – dieses „weltweit größte Plakat“ nötigte die Studierenden, auch tagsüber das Licht einzuschalten. Es würde gleichzeitig die Fassade gereinigt, lautete die Rechtfertigung – obwohl das Gebäude erst kurz vorher saniert worden war.
Gegenwärtig wird die silberfarbene Kugel des Berliner Fernsehturms mit einer Folie bedeckt, die ihr zur WM die Anmutung eines Fußballs geben soll. Magentafarben, um für die Telekom zu werben, die den Fernsehturm ja schließlich besitzt. Auf dem historischen Charlottenburger Tor, seit Monaten „wegen Sanierung“ eingerüstet, sind auf Planen riesige Handys der Firma Samsung abgebildet, die ihr Werk in der Stadt bald schließen und die Angestellten entlassen wird.
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„Der öffentliche Raum wird verkauft“, sagt Baumann zu diesen Beispielen. Das Geld, das man durch die Vermietung von Werbeflächen einnehmen kann, wird dabei zur unantastbaren Rechtfertigung – wie auch öffentlich-rechtliche Sender die Schleichwerbung damit rechtfertigen, dass sie die Produktionskosten senke.
„Es sind Einnahmen in Millionenhöhe. Wir können nicht darauf verzichten“, sagt Petra Reetz, die Sprecherin der hoch verschuldeten Berliner Verkehrsbetriebe (BVG), Europas größter Anbieter von öffentlichem Personenverkehr. Das ärgert Christfried Tschepe, den Vorsitzenden des Berliner Fahrgastverbandes: „Ich kenne niemanden, dem die zugeklebten Fenster egal sind, sondern nur negative Reaktionen“. Und Friedrich Lang vom hessischen Fahrgastverband (Pro Bahn und Bus) sekundiert: „Es wäre Wertschätzung des Fahrgastes, wenn er durch eine freie Scheibe blicken kann. Man ist Mensch und kein Postpaket.“
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Die Berliner Senatsverwaltung für Verkehr hat die BVG gebeten, die zugeklebten Fenster zu überdenken. „Wegen der Kundenfreundlichkeit“, sagt Sprecherin Petra Rohland. Die Senatsverwaltung müsste nicht bitten, sie könnte auch verfügen. Denn die BVG ist ein Unternehmen des Landes Berlin. Aber dann kommt wieder das Universal-Argument: „Der BVG würden dadurch erhebliche Werbe-Einnahmen fehlen“, sagt Rohland.
So wird der Druck, Flächen für Werbung zur Verfügung zu stellen, immer größer, je weiter sich der Staat aus der Finanzierung öffentlicher Dienstleistungen zurückzieht. Wenn einer öffentlichen Einrichtung Geld fehlt, soll sie sich gefälligst Privatsponsoren suchen – und die betrachten die Möglichkeit zur Werbung immer mehr als selbstverständlich und dringen in Bereiche vor, die für die Privatwerbung bislang tabuisiert waren. Sogar an Schulen ist mittlerweile in allen Bundesländern das Sponsoring erlaubt; in Bremen, Berlin und Sachsen-Anhalt sogar direkte Produktwerbung.
Selbst wenn, wie die Werbewirtschaft betont, in den letzten drei Jahren die Zahl öffentlicher Plakatwände gesunken ist, dann deswegen, weil sich die Werbung eben andere Bereiche erobert – etwa in der U-Bahn, wo neben Infoscreen und Plakaten neuerdings sogar der Fußboden auf Schnäppchenmärkte hinweist. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen muss der Zuschauer auch in der eigentlich werbefreien Abendzeit zur Kenntnis nehmen, welche Biersorte eine Sendung „freundlich unterstützt“ hat. Und der Fußballfan betritt kein Stadion mehr, sondern das dreidimensionale Anzeigenblatt einer „Allianz“- oder „Signal Iduna“-Arena.
Menschen fühlen sich dadurch nicht belästigt, glaubt Volker Nickel, Sprecher des Zentralverbandes der deutschen Werbewirtschafter: „In der Bevölkerung ist Werbung kein Thema, sie wird akzeptiert“, sagt er und verweist auf deutsche Gesetze, die Zustände „wie in Los Angeles oder Schanghai“ schon verhindern würden.
Auch Martin Scarabis, Sozialpsychologe an der Uni Münster, sieht die Werbeflut gelassen: „Die Menschen können sehr gut ausblenden.“ Selbst wenn Werbung lästig oder aufdringlich sei, richte sich der Ärger des Behelligten nicht gegen ein bestimmtes Produkt, sondern gegen Werbung schlechthin.
Dabei sind zugeklebte Fenster in Bussen und Bahnen ein handfester Nachteil: „Sie erschweren den Fahrgästen die Orientierung. Wenn ich aus dem Fenster schaue, möchte ich sehen, wo ich bin und wo ich aussteigen muss“, sagt Christfried Tschepe: „Sehbehinderte sind auf scharfe Konturen angewiesen. Das ist durch solche Werbung nicht möglich“, meint auch Friedrich Lang. Und Heike Schuster, Pressesprecherin beim Nahverkehrsanbieter Rheinbahn Düsseldorf, warnt vor Gefahren im Notfall: „Wenn ein Fenster komplett beklebt ist und Sie schlagen mit dem Notfallhammer drauf, dann fällt nichts von der Scheibe ab. Sie ist ja verklebt mit der Folie.“ In Düsseldorf ist es immerhin nicht erlaubt, mehr als drei Fenster nebeneinander ganz zu verkleben.
Aber müssen sich werbefreie öffentliche Räume mit praktischem Nutzen rechtfertigen? Kaum. Sie sind Selbstzweck und müssen es auch sein. Die Bürger haben ein Recht auf werbefreie öffentliche Räume. Und wirklich öffentlich ist ein Raum nur in dem Maß, in dem er nicht von privatwirtschaftlichen Interessen vereinnahmt wird – in einer auf Gemeinschaft orientierten Bürgergesellschaft ist ein solches Gegengewicht zu kommerziellen Einzelinteressen unverzichtbar. Neben Einkaufszentren, Vergnügungsparks und Freizeitbädern muss es auch Orte geben, in denen man sich als handelnder Bürger wahrnehmen kann und nicht nur als potenzieller Warenabnehmer. Nichtkommerzielle Sportplätze, Volkshochschulen, aber auch ganz normale Stadtplätze: Solche Orte dürfen nicht der Gefahr ausgesetzt werden, sich ökonomisch rechtfertigen zu müssen. Denn wenn private Werbung den Stadtraum verdeckt, pendelt bürgerliche Freiheit irgendwann nur noch zwischen kommerziellen Möglichkeiten. Genauso wie die Architektur hinter dem Neon verschwindet, rücken die Möglichkeiten aus dem Blick, jenseits des Warenverkehrs zu handeln. Deshalb müssen notfalls Gesetze bürgerliche Freiräume schützen, indem sie kommerzielle Werbung abwehren – genauso wie Graffiti und Scratching.
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