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Volksabstimmung in der TürkeiWarum Erdogan gewann

58 Prozent der Wähler haben der Verfassungsreform zugestimmt. Dabei ging es ihnen nicht so sehr um das Gesetzespaket, sondern um Lebensstile. Eine Analyse.

Eigentlich ging es im Referendum um das, was er verkörpert: Premier Erdogan. Bild: ap

"Heute ist ein großer Tag für die Demokratie. Das Volk hat gesiegt". Als Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan am Sonntagabend in der Istanbuler Zentrale der regierenden AKP vor seine jubelnden Anhänger tritt, ist ein Mann zu besichtigen, der auf dem Zenit seiner Macht steht. Acht Jahre ist er mit seiner islamisch-konservativen Partei nun von Sieg zu Sieg geeilt, das Referendum über eine reformierte Verfassung bildet gewissermaßen den vorläufigen Höhepunkt.

Überraschend deutlich, mit 58 zu 42 Prozent, wurden die Verfassungsänderungen in der Volksabstimmung am Sonntag gebilligt. Doch schon eine oberflächliche Analyse zeigt, dass die Abstimmung mit den Verfassungsänderungen, die zur Debatte standen, nur wenig zu tun hatte.

Die politische Landkarte nach der Abstimmung sieht vielmehr fast exakt genauso aus wie nach den Kommunalwahlen im Februar 2009. Die gesamte Ägäisküste, der Westen des Landes also, hat mit Nein gestimmt, ebenso die Küstenprovinzen im Süden. Ganz Zentralanatolien, der Nordosten und die Provinzen am Schwarzen Meer hingegen haben mit wenigen Ausnahmen für die Reform gestimmt.

Im kurdischen Südosten sieht es zwar so aus, als hätte eine überwältigende Mehrheit der Kurden Ja gesagt. Tatsächlich aber sind zwei Drittel der kurdischen Wähler dem Boykottaufruf der BDP gefolgt und haben damit erneut gezeigt, dass auch Erdogans AKP gegenüber der Kurdenpartei das Nachsehen hat.

Heißt das nun, dass die Bewohner der liberalsten türkischen Metropole, nämlich Izmir, wo 65 Prozent der Wähler die Verfassungsreform abgelehnt haben, gegen mehr Demokratie sind? Und die Menschen in der reaktionärsten Stadt des Landes, dem ostanatolischen Erzurum, bislang eine Hochburg von Islamisten und Faschisten, plötzlich die Liebe zur Demokratie entdeckt haben, weil sie mit über 85 Prozent mit Ja stimmten?

Natürlich nicht. Das Wählervotum, darüber waren sich die meisten Kommentatoren am Sonntagabend einig, hatte nur sehr bedingt mit der Verfassungsänderung etwas zu tun. Umfragen hatten gezeigt, dass mehr als 50 Prozent auch am Wahltag noch nicht wussten, worum es bei den Verfassungsänderungen eigentlich ging.

"Ich sehe das Referendum als ein Votum über meinen Lebensstil", sagte eine Frau in einem der modernen Stadtteile Istanbuls der Hürriyet, "deshalb stimme ich mit Nein." Der säkulare Teil der Gesellschaft befürchtet, dass mit der Verfassungsänderung die AKP nach der Exekutive und Legislative nun auch die Justiz unter ihre Kontrolle bringen wird. "Erdogan", sagt ein anderer kritischer Wähler, könne sich "jetzt seine Gesetze selbst machen".

Die konservative Mehrheit in Anatolien stimmte dagegen mit Ja, weil "Erdogan unser Führer ist" oder "die Partei sich wirklich um das Volk kümmert". "Sie haben bei mir an die Haustür geklopft und mir zehn SMS geschickt", sagte ein Erdogan-Anhänger, das zeige doch, dass die "AKP mit dem Volk ist".

Natürlich haben aber auch etliche Wähler sich die vorgeschlagenen Verfassungsänderungen genau angeschaut und ganz bewusst dafür gestimmt, darunter auch solche, die mit der AKP sonst nicht einverstanden sind. Die nun gebilligten Änderungen untergliedern sich in drei Komplexe: einen völlig unstrittigen Teil, bei dem es um die Rechte von Kindern, Behinderten und Frauen geht, den Militärkomplex und den Justizkomplex.

Diejenigen, die für Ja gestimmt haben, obwohl sie eigentlich keine Freunde der AKP sind, haben das wegen des Militärkomplexes getan. Mit der Abschaffung der Amnestie für die Putschgeneräle von 1980, der Einschränkung der Militärgerichte und der Feststellung, das sich künftig auch hohe Offiziere vor Zivilgerichten verantworten müssen, wird die Sonderstellung, die das Militär in der Türkei über Jahrzehnte hatte, tatsächlich endgültig aufgehoben.

Das ist die gute Nachricht. Problematisch ist der Justizkomplex, wo künftig eine einfache Mehrheit im Parlament genügt, um einen Richter am Verfassungsgericht zu bestimmen. Wenn die AKP im Juni kommenden Jahres die Parlamentswahlen erneut gewinnt, wird sie sich genehmes Personal aussuchen können.

Mit dem Votum geht Erdogan enorm gestärkt in den Wahlkampf für die Parlamentswahlen. Für die Opposition ist dagegen vor allem die Höhe der Ja-Stimmen eine Niederlage und dämpft die Hoffnung, die AKP nach zwei Wahlperioden endlich besiegen zu können.

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8 Kommentare

 / 
  • S
    sophie

    Ich bin echt gespannt, ob es anders sein wird, wie im Skandal Semdinli. Gestern ist ein Bus, in dem zivile saßen gesprengt wurden. Die Tasche vom Militär, die vergessen wurde, ist heute gesprengt wurden. Ich bin der Meinung es hat sich nichts geändert. ja die machthand hat sich geändert, es prfitiert nur jemand anders von dieser Macht. Nicht mehr die Militäer, sondern AKP. Wenn sich wirklich was geändert haben sollte, WARUM wurden diese Taschen gesprengt. Das waren doch die Beweise, um an die wirklichen Täter zu komnmen. Leider, Leider hat sich nichts geändert. bestimmte Mächte haben immer noch das sagen im Osten (JITEM).....

  • D
    Denoc

    Ach Herr Gottschlich. Sie wissen nicht wofür Kemalisten stehen. Sie waren immer antidemokrtisch, ultranationalistisch und feindselig gegenüber allen andersdenkenden. Haben sie mal türkische Schulen oder Kasernen besucht. Da wird den türkischen Bürgern die faschistische Ideoligie des Kemalismus eingetrichtert. Was ist mit den 5 Militärputschen? Was ist mit der Feindseligkeit der Kemalisten gegenüber Kurden, Armeniern, Griechen und anderen Minderheiten? Neben den Kemalisten ist der Herr Erdogan ein lupenreiner Demokrat. Leider bleiben ihre Analysen nur auf der Oberfläche. Sie wissen rein gar nichts über den Kemalismus.

  • T
    Türke

    ....dem ostanatolischen Erzurum, bislang eine Hochburg von Islamisten und Faschisten....

     

    Ich komme aus Erurum. Ist die Form der radikalen Aussagen tatsächlich wert in Zeitungen gedruckt zu werden?

     

    Ich finde, daß nicht Erzurum, sondern Ihr Verlag eine Hochburg von Lügnern und Faschisten ist.

     

    Wir erleben ein ständig aufstrebendes Land seit der Erdogan-Regierung. Anerkannt in der Europäischen Politik. Wir alle werden erleben, daß die Türkei einer der wichtigsten Wirtschaftsmächte darstellen wird, darüber hinaus eine friedliche Macht.

  • I
    Interpretator

    P.S.

     

    Im Nachhinein erweist sich, dass Yalcinkaya mit seinem Verbotsantrag gegen die AKP vor 2,5 Jahren wohl recht hatte. Die AKP ist in dem Sinne verfassungsfeindlich, als dass sie grundlegende Elemente der Verfassung aushebelt. Das Argument, formal sei alles legal, lässt sich auch auf das Ermächtigungsgesetz von 1933 anwenden. Die Verfassungsrichter werden ihre damalige Entscheidung wohl bereuen. Zur vermeintlichen rein kemalistischen Justiz noch eine Anmerkung:

     

    Wie Kilicdaroglu bereits erklärt hat: Wenn die Justizh wirklich so streng kemalistisch wäre, warum hat sie so häufig gegen die CHP entschieden?

     

    Fragen, Frage, Fragen.

  • MM
    Max Meier

    @ Christof Lux:

     

    Genau um das ging es ja beim Verfassungsreferendum hauptsächlich:

     

    Kann die kriminelle Justiz-Junta endlich entmachtet werden?

    Und siehe da: Es ist geschehen! Die Allmacht der HSYK-Mafia ist gebrochen worden:

     

    - In Zukunft keine Abberufungen mehr von ermittelnden Staatsanwälten wie beim Semdinli-Skandal

    - Keine Verschleppung von Verfahren mehr durch die Justiz wie beim Hrant-Dink-Mord

    - Keine skandalösen Parteiverbote mehr durch die Richterjunta

    - Keine weitere Verzögerungen im Ergenekon-Terrorprozess durch Versuche, den Staatsanwälten Knüppel zwischen die Beine zu werfen

    - Abschaffung der militärischen Jusitz-Parallelmafia

    - und natürlich auch kein Prozess gegen Dogan Akhanli durch die nationalistische Ankläger

    - usw.

     

    Trotz übelster Schlammschlacht hat die Demokratie gewonnen, Gratulation an die aufgeklärten Wähler!

  • I
    Ilyas

    Ja, ja das dumme türkische Volk hat ja so überhaupt keine Ahnung, alles ungebildete Leute. DIesen Eindruck könnte man bekommen, wenn man Ihre Analyse liest. Das find ich schon als beleidigend! Das Volk ist endlich aufgewacht und votiert für die Demokratie! Glauben Sie etwa, dass das Volk die dubiosen Entscheidungen des HSYK bezüglich der Einstellung und Absetzung von Richtern und Staatsanwälten (Stichwort: Semdinli, oder Cihaner), die Infiltration des Militärs mit Ergenekon (stichwort:Balyoz), die lächerliche Entscheidung des Verfassungsgericht zu der ersten Präsidentenwahl (Stichwort: Abdullah Gül) nicht mitbekommen hat. Das Volk weiss sehr wohl, wer sich geriert, über der Verfassung und damit unantastbar zu sein!

    MfG

    Ilyas

  • O
    otmar
  • CK
    Christof Kux

    Im gleichen Augenblick, in dem sich Erdogan als Demokrat feiern lässt, sitzt der deutsche Staatsbürger, türkischstämmige Autor und Menschenrechtler Dogan Akhanli ohne rechtsstaatliche Grundlage in der Türkei in Haft! (Weitere Informationen unter http://www.das-kulturforum.de/)

    Die türkische Justiz nimmt Rache an einem Mann, der sich für die Aufarbeitung der türkischen Vergangenheit in bezug auf den Genozid an den Armeniern 1915 einsetzt, und sie tut dies bislang weitestgehend unbehelligt von der deutschen Medienlandschaft.

    Stattdessen wird berichtet, dass sich Herr Westerwelle für den EU-Beitritt der Türkei einsetzt (z.B. Wiesbadener Kurier 14.9.2010, Seite 1).

     

    Augen zu und durch???