Verpatzte Siegesserie: Die Kälte der Niederlage
Unter normalen Umständen hätte der Schweizer Heinz Frei seinen 20. Sieg beim Berlin Marathon eingefahren. Das Wetter machte dem 52-Jährigen Rollstuhlfahrer aber einen Strich durch die Rechnung.
Ein paar Sekunden nur hielt Heinz Frei nach den 42,195 Kilometern den Rollstuhl still. Ganz allein stand der Schweizer da im Dauerregen und versuchte, seinen rasenden Atem zu beruhigen. Seine Arme zitterten vor Erschöpfung. In der Vergangenheit wurde Frei immer von einem Mitglied des Organisationsteams in Empfang genommen und zur Siegerehrung geleitet. An diesem Sonntagmorgen, an dem er seine einzigartigen Karriere um den 20. Sieg beim Berlin Marathon bereichern wollte, gab er für einen kurzen Moment ein sehr tristes Bild ab.
Er, die lebende Legende dieses Wettbewerbs, verschnaufte für ein paar Sekunden - von niemandem beachtet. Im Hintergrund ragten die Siegessäule und graue Nebelwände empor. Dann griff der 52-Jährige plötzlich kräftig in seine Greifräder und verließ rasch den Ort der Enttäuschung.
Eine Reifenpanne auf den ersten Kilometern hätte Frei aller Siegeschancen beraubt, erklärte der Mann am Mikrofon auf der Zielgerade. Anders konnte er sich den Abstand von fast 20 Minuten, den Frei auf den japanischen Sieger Masazumi Soejima hatte, wohl nicht erklären.
In Wirklichkeit aber war dem Reifen des einstigen Seriengewinners erst auf dem letzten Kilometer die Luft entwichen. So rollte Frei zwar ganz schief über die Ziellinie, weil er sein Gewicht verlagern musste, sein großer Rückstand hatte jedoch andere Ursachen. "Ich war unterkühlt", berichtete Frei. Ihm passiere das schnell bei solch nasskaltem Wetter, weil seine Querschnittslähmung sehr weit nach oben reiche und er über weniger Muskelgruppen als viele seiner Konkurrenten verfüge. Zudem hätte er mit seinen nassen Handschuhen nicht mehr richtig zugreifen können, und als Brillenträger habe er bei diesem Regenwetter nur schlecht sehen können.
Bereits nach fünf Kilometern betrug der Rückstand auf den Führenden gut 30 Sekunden, und spätestens da war klar, dass Frei nicht mehr gewinnen können würde. "Sportlich gesehen hat das heute keinen Spaß gemacht", gab Frei hinterher unumwunden zu. "Es war eine Qual." Aufgeben aber kam für ihn nicht infrage.
Das ist ein Grundsatz des Rolllstuhlsportlers. Frei, der mit 21 Jahren beim Berglauf in eine Schlucht stürzte und seitdem querschnittgelähmt ist, hat in seinem Leben noch nie aufgegeben. Und beim Sport kommt das für ihn sowieso nicht in Betracht: "Ich leide gern, wenn es rollt." Und wenn es nicht rollt, wie am Sonntag, dann leidet er noch mehr.
Völlig erschöpft und verfroren verließ er den Zielbereich so schnell wie kein anderer und erschien auch nicht zur Pressekonferenz, für die er eine Einladung erhalten hatte: "So eine Institution wie Heinz Frei hat man immer gern auf dem Podest, ganz unabhängig davon, wie er fährt", erklärte Reiner Pilz, der das Rollstuhlrennen in Berlin organisiert. Das Ausbleiben von Frei hat vermutlich auch mit seinem Selbstverständnis zu tun, dass diese Plätze vor der Presse nur den Siegern vorbehalten ist. Bislang war er dort Stammgast. Über hundert Marathonsiege hat er erzielt. Sein 1997 aufgestellter Weltrekord (1:20:14 Stunden) konnte bis heute nicht unterboten werden. In der Schweiz genießt der Ausnahmesportler, der bei den Paralympics insgesamt 14 Goldmedaillen holte, eine große Popularität. Einen neu gebauten Autobahnabschnitt stellten ihm seine Landsleute einst zur Verfügung, damit er den Weltrekord auf der 100-Kilometer-Strecke aufstellen konnte. Natürlich fuhr Frei die gewünschte Fabelzeit.
"In Berlin hat er eine ganze Rollstuhlgeneration verschlissen", sagt Pilz. Für die anderen hätte es all die Jahre schon eine gewisse Tragik gehabt, dass sie an diesem Heinz Frei vorbeimussten, um zu gewinnen. Und wahrscheinlich wäre es auch dieses Mal schwer geworden - trotz Freis Alters von 52 Jahren. Denn in Padua hatte Frei dieses Jahr wieder eine fantastische Marathonzeit (1:23:45) erreicht. "Das zeigt mir, dass ich noch ein, zwei Jahre ganz vorne mithalten kann", sagt er. Natürlich werde er nächstes Jahr wieder hier sein. Folgt dann der 20. Jubiläumssieg? "Man darf ja träumen", antwortet Frei.
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