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20 Jahre GolfkriegDer Magen meines Vaters

Kolumne
von Abbas Khider

"In die Steinzeit zurückbomben" wollten die USA den Irak. In unserem Haus in Bagdad warteten wir damals auf die drohende Apokalypse.

D ie Dämmerung hatte sich wie ein dunkler Schleier über das Antlitz Bagdads gelegt. Die sonst in den Abendstunden so geschäftige Stadt war von einer Stille erfasst, als sei ihr Mund von schwerem Stoff verdeckt. Bagdad schien die Lippen aufeinander zu pressen und verkrampft den Atem anzuhalten.

Auf mich wirkte unser Viertel, das Armenghetto "Saddam City", damals wie die Geisterstädte in den Cowboyfilmen, die ich aus dem Fernsehen kannte. Jeder kauerte sich im Schutze seines Hauses um die Öfen und wartete gespannt auf Nachrichten aus den Radiolautsprechern. Nur die schwerbewaffneten Soldaten hielten sich noch immer draußen auf, wo sie vor Lagerfeuern, den Öllaternen oder auf den Dächern von Schulen, Wohnhäusern und dem Büro der Baath-Partei Stellung bezogen hatten.

Amerika, der dicke Pickel

ines kappert
Abbas Khider

ABBAS KHIDER lebt als Schriftsteller in Berlin. Im Jahr 1973 in Bagdad geboren und mit 19 Jahren wegen politischer Aktivitäten verhaftet, flüchtete er nach seiner Freilassung 1996 nach Europa. Seit 2000 ist er deutscher Staatsbürger. Bekannt wurde er durch seinen Roman "Der falsche Inder". Sein dritter Roman, "Die Orangen des Präsidenten", erscheint im März bei Nautilus und erzählt von Khiders Gefängnisaufenthalt.

Die Stille setzte sich auch zu Hause, ja bis in unsere Gedanken fort - die Unerträglichkeit, nicht zu wissen, wie es um das Land stand, hielt jede Bewegung zurück. Alles stand still. Nur ein Wort wurde mit jedem Male lauter und drohender ausgesprochen: "Amerika!" Es war wie ein dicker Pickel, der allen Leuten im Gesicht gewachsen war und der bei jeder Gefühlsregung schmerzte und aufzuplatzen drohte, um ein ekliges Gemisch aus Eiter und Blut hervorzubringen. Meine Familie war überzeugt, dass die Amerikaner dieses Mal das Armageddon heraufbeschwören würden. Ihre Bomben und Raketen würden den ganzen Irak zu Staub zermalmen und die Menschen zu Falafelbällchen zerquetschen.

Um 19 Uhr hatten sich fast alle meine Schwestern und Schwägerinnen mit ihren Kindern bei uns im Elternhaus eingefunden, weil alle jüngeren Männer der Familie bereits in den Krieg gezogen waren. In mir herrschte ein Gefühlschaos, das ich niederkämpfen wollte, in dem ich irgendwie versuchte, so leer und hart wie ein Roboter zu werden. Leider gelang es mir nicht einmal im Ansatz. In meiner kindlichen Verzweiflung versuchte ich, der Ohnmacht mit Witz zu begegnen. "Hey, wir haben doch den Irankrieg überlebt! Wir sind unsterblich!" Natürlich fand das niemand lustig.

Gegen 20 Uhr dann analysierte ein vermeintlicher Nahostexperte des Radios Monte Carlo oder der BBC: "Dieser moderne Konflikt wird völlig anders sein als alle, die bisher geführt wurden. Schnell und präzise, fast keine zivilen Schäden, und die neuen Technologien der Kriegsführung werden Saddams Truppen und Einrichtungen aus dem Land entfernen wie ein Chirurg einen Tumor aus gesundem Gewebe schneidet."

"Das ist kompletter Schwachsinn!", fluchte mein Vater. Zwei Stunden später hatte sich nichts an unserer Situation geändert. Saddam war noch immer nicht zur Kapitulation bereit. Die Amerikaner und ihre Verbündeten machte dieser sinnlose Widerstand des hoffnungslos unterlegenen Saddam nervös und ungeduldig. Schließlich hatte ein amerikanischer General versichert, sie würden den Irak in die Steinzeit zurückbomben, wenn Saddam nicht aufgeben würde. Gegen 23 Uhr befanden wir uns zwar noch in der Neuzeit, aber mein Vater war hundertprozentig davon überzeugt, dass der Krieg nun jeden Moment anfangen würde. Er wurde mit einem Mal sehr aufgeregt und hatte das Gefühl, Giftschlangen wanden sich in seinem Magen und Drachen spien Feuer aus seinen Eingeweiden. So beschrieb er den Durchfall, der ihn kurz darauf panisch zur Toilette rennen ließ.

Koranverse gegen den Krach

Der Angriff begann schließlich um Mitternacht. Aus allen Himmelsrichtungen war ohrenbetäubender Krach zu hören - Detonationen, MG-Feuer, das Heulen der Sirenen, und die Schreie meiner Familie. Das ganze Haus erzitterte wie bei einem Erdbeben. Der Strom war ausgefallen und wir hechteten im Dunkeln die Treppe hinauf, um uns im Schlafzimmer meiner Eltern zu verstecken. Meine Mutter versuchte in naiver Verzweiflung, die geschlossenen Fenster zusätzlich mit Kleidern zu verstopfen, um uns vor eindringendem Giftgas zu schützen. Dann setzte sie sich zu uns und begann mit leiser Stimme, Verse aus dem Koran vorzutragen.

Wir anderen schwiegen und schauten mit bitterem Blick abwechselnd einander und den Zimmerboden an. Durch das Grollen, Fauchen und Donnern des Krieges hindurch hörten wir mehr und mehr das seltsame Blubbern und Glucksen aus dem Bauch meines aufgeregten Vaters, der schließlich das Schweigen brach, weil er aufs Klo wollte. Meine Mutter schaute ihn entgeistert an und warf ihm einen wütenden Fluch zu: "Du Esel! Hör endlich mit dieser Scheiße auf und kümmere dich um deine Kinder!" In diesem Moment brachen wir alle in lautes Gelächter aus und Vater rannte prustend aus dem Zimmer.

Nichts wie raus aus Bagdad

Doch so schnell und befreiend wie das Lachen gekommen war, so schnell schwiegen wir wieder. Irgendwann hörten die Bomben so plötzlich auf wie ein Platzregen. Es dauerte einen Moment, bis wir die Stille überhaupt bemerkten, da unsere Ohren noch immer vom Krach betäubt waren. Nun waren nur noch Maschinengewehrsalven aus der Ferne zu hören, die wie gebratene Kichererbsen in einer abgedeckten Pfanne knatterten.

Mein Vater war der Ansicht, dass wir Bagdad verlassen sollten, so wie die anderen Familien, die die Helligkeit des Tages nutzten und umgehend aus der Stadt flohen. "Wir müssen nach Kerbela", entschied er, denn dort arbeitete und lebte einer meiner Brüder, mit seiner Frau und seinen Kindern. Er schaute mich an: "Gehe zu deiner Schwester und hole den Wagen!"

Die Straßen des Viertels lagen so leer und still da wie ausgetrocknete Kanäle. Nichts bewegte sich außer dem grauen Rauch, der sich mit dem Nebel des Morgens vermischte. Vorsichtig schlich ich an den Nachbarhäusern entlang und beobachtete nervös die leere Straße. Alle Haustüren waren fest verschlossen. Die Wohnhäuser schienen bereits leer zu stehen. Die Mehrheit der Bewohner hatte wohl bei Tagesanbruch die Stadt verlassen. Selbst die Baathisten des Viertels, die normalerweise allgegenwärtig waren, hatten sich vor Angst aus dem Staub gemacht und in irgendeinem Rattenloch verkrochen. So einsam wie an diesem Morgen hatte ich mich noch nie gefühlt.

Kurz darauf fuhr die ganze Familie im Minibus im Zickzack durch Bagdad, um Schlaglöchern, Bombenkratern, Trümmern oder Bränden auszuweichen. Auf der Autobahn angekommen, reihten wir uns ans Ende einer endlosen Schlange von Autos. Wir hofften, dass wir noch vor dem Abend in Kerbela ankommen würden, vor dem nächste Angriff. Das ganze Volk schien auf Wanderung zu sein. Keiner außer den plärrenden Kindern gab einen Laut von sich. Nur der Magen meines Vaters redete ununterbrochen. Jedes Mal, wenn er die Tür des Busses aufmachte, um nach draußen zu eilen und seine Notdurft zu verrichten, lachten wir so selig wie am Vorabend und fühlten uns für einige Sekunden in Sicherheit.

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