Kolumne Ökosex: Stilvoll fossile Betonköpfe kritisieren
Plädoyer für eine nicht kleinkarierte Debatte zwischen Off-Shore-Optimisten und Fotovoltaik-Dezentralisierungsfreunden.
A ch, wie stark sind manchmal die solaren Emotionen, wie leicht neigt man, also ich, zur Kleinkariertheit. Lese ich vorige Woche die Pressemitteilung vom Sachverständigenrat für Umweltfragen: "100 Prozent Vollversorgung mit erneuerbaren Energien in Deutschland technisch und finanziell machbar, Laufzeitverlängerung und neue Kohlekraftwerke kontraproduktiv".
Super! Das wäre doch eigentlich für mich als Liebhaber des Nirwana des ewig Erneuerbaren ein Grund, den Sachverständigenrat abzubusseln. Waren doch Positionen in Richtung 100 Prozent erneuerbare Stromversorgung bis vor Kurzem gerade unter Ökonomen etwas für Masochisten, die Missachtung und Außenseitertum nicht scheuten. Und jetzt also nach Umweltbundesamt, Öko-Institut u. a. wieder ein Gremium, das klar und deutlich "bezahlbar" sagt. Ist das nicht ein Grund zur Freude? Aber nein: Total kleinkariert, wie ich bin, habe ich erst mal geflucht.
Warum? Bei der Pressekonferenz hatte Professor Hohmeyer nämlich darauf hingewiesen, dass der "kostenoptimierte" Weg schnurstracks über massiven Off-Shore-Strom verlaufe, der in Norwegen in Pumpspeicherkraftwerken gespeichert werde. Eine höchst interessante Option. Die Pumpspeicherseen gebe es nämlich schon, ihre Erschließung für deutsche Windschwankungen sei kostentechnisch optimal. Viel günstiger als regionale Speicher.
So weit, so prima. Wäre da nicht noch eine zusätzliche Folgerung: Die Fotovoltaik spiele demnach nur eine marginale Rolle. Deshalb sollte man auch so schnell wie möglich den Ausbau stoppen. Reine Geldverschwendung. Am besten bei einem Gigawatt deckeln. 1 Gigawatt? Da brennen bei einem Fotovoltaikfanatiker wie mir natürlich die Sicherungen durch. Wäre das nicht nach den 8 Gigawatt Aufbau im Jahr 2010 eine Art Kastration ohne Vollnarkose? Käme das nicht dem radikalen Abbruch einer Branche und des zugehörigen Handwerks gleich?
Martin Unfried ist Autor der taz.
Im ersten Affekt rief ich den Generalsekretär des Sachverständigenrats an. Der Arme musste sich mein Gebrabbel anhören zu den regionalen Wertschöpfungseffekten von Fotovoltaik und On-Shore-Windenergie. Warum denn regionale Wertschöpfung, Dezentralisierung und Demokratisierung der Energieversorgung im Gutachten keine größere Rolle spielten? Als ich auflegte, wusste ich, wie ungerecht ich doch bin. Der Sachverständigenrat ist ja schließlich nicht der Papst. Das zeigte mir vor allem das detaillierte Studium der 662 Seiten.
Mein Tipp: von vorne bis hinten lesen unter www.umweltrat.de. Da steht viel Richtiges drin für den Streit gegen fossile Betonköpfe. Und dann stilvoll kritisieren, dass die Kostenabschätzungen auf Abbildung 4-47, auf Seite 250 bereits veraltet sind. Immerhin soll die EEG-Vergütung nach Röttgen im Jahr 2012 bereits nur noch 22 Cent betragen. Und darauf hinweisen, dass die Analyse auf Seite 342 ff. zu den regionalen und kulturellen Aspekten etwas schwachbrüstig daherkommt und eine Massakrierung der PV die gesellschaftliche Lust an den Erneuerbaren nicht unbedingt fördern wird. Und warum insgesamt nicht mehr Fantasie in Sachen "solare Carports"? Podiumsdiskussion, ich komme!
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