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Kompromiss in der Hartz-IV-ReformArbeitsagentur fehlen Milliarden

Die Bundesregierung schiebt die Kosten für den Hartz-IV-Kompromiss der Arbeitsagentur zu. Jetzt protestieren Arbeitgeber, Gewerkschaften und Opposition.

Mann mit Arbeit - für Leute ohne Job könnten erneut die Leistungen gekürzt werden. Bild: ap

BERLIN taz | Arbeitgeber und Gewerkschaften haben am Mittwoch vor den Folgen des Hartz-IV-Kompromisses gewarnt: "Für die Beitragszahler zur Arbeitslosenversicherung haben die Hartz-IV-Beschlüsse milliardenschwere Belastungen zur Folge", sagte Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt in der Welt. DGB-Bundesvorstandsmitglied Annelie Buntenbach warnte gegenüber der taz: "Die Bundesagentur für Arbeit wird sehenden Auges in eine Schuldenfalle getrieben. Der Druck auf Leistungskürzungen oder Beitragserhöhungen wird völlig unnötig erhöht."

Hintergrund ist der Kompromiss in der Hartz-IV-Reform: Um die SPD-geführten Bundesländer zur Zustimmung für die Reform zu bewegen, hat der Bund den Kommunen zugesagt, stufenweise die Kosten der Grundsicherung für Rentner zu übernehmen. Bis 2015 sollen die Kommune so um zwölf Milliarden Euro entlastet werden.

Das Geld dafür soll zum Teil der Bundesagentur für Arbeit (BA) weggenommen werden: Die Regierung will der BA künftig nur noch einen halben Prozentpunkt aus dem Mehrwertsteueraufkommen überlassen. Seit 2007, als die Mehrwertsteuer um drei Prozentpunkte angehoben wurde, hatte die BA jährlich einen vollen Prozentpunkt in Höhe von acht Milliarden Euro erhalten.

Die Kürzung um vier Milliarden Euro jährlich würde die BA wieder tief in die Schulden treiben. Bis 2015 würde die Agentur ein Defizit von rund 10 Milliarden Euro anhäufen, prognostiziert eine Finanzschätzung der BA. Bereits 2011 liefen fünf Milliarden Schulden auf, die durch Darlehen von der Regierung gedeckt werden müssten. Noch vor dem Hartz-Kompromiss war die BA davon ausgegangen, spätestens 2013 wieder ein Plus von 1,4 Milliarden Euro einzufahren, 2015 sollten es schon 4,2 Milliarden Euro sein.

Um die Schulden abzutragen, gäbe es mehre Möglichkeiten: eine Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung, Kürzungen bei den Leistungen zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt oder bei der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I.

Hundt plädierte für Letzteres: So sollten alle Arbeitslosen künftig einheitlich maximal 12 Monate ALG I bekommen. Für Menschen über 58 sind derzeit bis zu 24 Monate möglich. Beitragserhöhungen schloss Hundt aus.

Brigitte Pothmer, arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, befürchtet, dass erneut bei den Eingliederungsmaßnahmen gespart werden soll. Bereits beim Sparpaket, das im Zuge der Finanzkrise 2010 beschlossen wurde, hatte die Regierung die BA dazu verpflichtet, bis 2014 rund 16 Milliarden Euro einzusparen. Dazu sollen in den nächsten Monate alle Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik einer Revision unterzogen werden. "Die Instrumentenreform wird nach dem Diktat des Finanzministers entschieden", sagte Pothmer. Es brauche aber mehr Geld, um Arbeitslose in Jobs zu bringen, vor allem langfristig angelegte Fördermaßnahmen seien erfolgreich, sagte Pothmer.

Auch Anette Kramme, arbeitsmarktpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, kritisierte die Kürzungen bei der BA: "Die Bundesarbeitsministerin hat immer gesagt, Erwachsene müssen arbeiten und wir müssen ihnen Chancen geben - gleichzeitig werden diese Chancen beschnitten. Das ist der pure Widerspruch."

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5 Kommentare

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  • H4
    Hartz 4 für's Statistische Bundesamt?

    "Arbeitsagentur fehlen Milliarden"

     

    Warum eigentlich? Die Arbeitlosenzahlen sind doch drastisch zurück gegangen.

    Muss die Arbeitagentur vielleicht für die geschönten Statistiken blechen?

  • H
    Hannes

    Seitdem die CDU regiert, verschlechtert sich die schlechteste Arbeitsmarktpolitik seit 1945 noch weiter: Um ein faules Jahr zu legen, will die Regierung das gesamte Fundamtent der Arbeitsmarktpolitik so lange unterspülen, bis es gar keine Arbeitsmarktpolitik mehr gibt, sondern nur noch Mini-Sozialgeld, auf Deutsch Hartz-IV.

    Weil Hartz-IV ein Mal realisiert wurde, ist die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik praktisch aufgegeben worden.

     

    Die ganzen Rechnungen hier führen alle in die Irre, weil sie aussagelos sind. Die Beiträge und die Ausgaebn sind seit 1990 längst Teil der Regierungspolitik geworden. Wenn die Regierung also jetzt mit neuem Druck auf Beiträge und Leistungen aufwartet, ist das beabsichtigt. Das ist nicht passiert wie ein Erdbeben oder eine Flut, sondern dies ist ganz klar Teil des Plans.

    Und das wissen auch die Parteien und Verbände. An deren Reaktion kann der Leser nachvollziehen, wie tief der Sachverstand in diesem ganzen Bereich bereits gesunken ist.

     

    In Wirklichkeit schachern die Kräfte dort um sehr wenig Geld, lösen aber Probleme aus, die Deutschland in den nächsten zehn bis dreißig Jahren die Zukunft kosten können. Der demographische Wandel, die verfestigte Hartz-Arbeitslosigkeit, die falsche Ausrichtung der Wirtschaftspolitik (Export), die schwache Binnennachfrage und die drastischen Kürzungen bei Renten / Beiträgen für Arbeitslosen zur Rente produzieren 2020, 2030 und 2040 eine gewaltige Armut, die dann freilich eine anderen Regierung ausbaden muss. Nur dann könnte es zu spät sein.

     

    Schon Hartz-IV kostet viel mehr, als es an Sparleistung erbringt: Die Löhne sinken, die Steuereinanahmen sinken, die Beiträge zu Krankenkassen sinken, die Armut steigt, die Zeitarbeitsbranche frist sich wie ein Krebsgewür durch die Wirtschaft, der Staat bezahlt und subventioniert schlechte Arbeit, macht miese Unternehmer zu Subventionsjunkies und lobt dies auch nocht.

     

    Bei dieser gewaltigen Fehlsteuerung ist dann eine Ursula von der Leyen nur noch folgerichtig: Wer erwartet, dass diese Frau auch nur das Problem erkennen kann, geschweige denn anfängt, Lösungen zu erarbeiten? Hinzu kommt, dass es schon bald ein neues Urteil aus Karlsruhe geben könnte, dann wäre das Gejaul ja noch viel größer.

  • SW
    Schorsch W.

    Hartz IV (SGB II) - Aggregat zum Mentalitätswandel

    Es geht bei Hartz IV nicht darum, den Armen zu helfen. Seit dem Bestehen von Hartz IV hat sich die Armut und soziale Ungleichheit in Deutschland verschärft ... eine wesentliche Folge von Hartz IV. Denn tatsächlich instrumentalisiert das Gesetz die zunehmende Anzahl der direkt Betroffenen zu den Zwecken der Ausweitung und Festigung atypischer und prekärer Beschäftigung. Das heißt, die primären Funktionen von Hartz IV bestehen u.a. in der dauerhaften Etablierung eines Niedriglohnsektors, dem Abbau von Arbeits- und Sozialstandards und in der Verinnerlichung der unbedingten Bereitschaft zur Annahme so genannter “zumutbarer” Erwerbsarbeit, womit in der Regel Beschäftigungen gemeint sind, die unterhalb der formalen Berufsqualifikation liegen ... und bis zur Akzeptanz niederwertiger Arbeit reichen. Im Dienste eines unbarmherzigen und als unausweichlich, beinahe als unveränderbar im Sinne eines Naturereignisses behaupteten Krisenkapitalismus, soll Hartz IV dazu beitragen, die Mentalität, den Charakter, des deutschen Volkes umzuformen. So soll sich der Mensch unhinterfragt den Bedingungen einer stetig von starken Schwankungen gefährdeten Marktwirtschaft unterwerfen, deren Bezeichnung “Neue Soziale Marktwirtschaft” lautet. Das “Soziale” steht für die Zurichtung der Einzelnen zu von der Solidarität gelösten, isolierten Wesen, deren Existenz sich dann über einen jeweils individuellen Schicksalsglaube in einer scheinbar unübersichtlichen, von Anomie geprägten Welt legitimieren lässt. Die beschworene “Eigenverantwortung” beinhaltet in diesem Zusammenhang nichts weiter, als das Individuum auf einen unerbittlichen Daseinskampf zu reduzieren - um damit auch seine physischen und geistigen Ressourcen im Wert zu drücken oder brach liegen zu lassen, da die aus diesem Prozess resultierende Verengung der Potenziale die Prinzipien von Angebot und Nachfrage ad absurdum führt. Zur Ökonomie des Individuums gehört so im Wesentlichen der Umgang mit Ängsten, bestehend aus forcierten Konflikten zur Sicherung der Existenz und des sozialen Standards. Von den Ursachen dieser Prozesse getrennt und auf den Schicksalsglaube zurückgeworfen, rationalisiert der Einzelne seine Ängste über bloße Reiz-Reaktions-Mechanismen. Diesbezüglich besteht in Hartz IV die weitere Funktion als Projektionsfläche, nämlich die der Schuldzuweisung (Stigmatisierung) an die direkt vom Gesetz betroffenen Menschen: sie seien Schuld an ihrer Situation, sie würden das soziale System gefährden usw. Obwohl es im Gegensatz die “neuen” wirtschaftlichen Strukturen sind, die die Instabilitäten herbeiführen ... Es ist unfassbar, dass solche eigentlich einfach durchschaubaren Methoden im 21. Jahrhundert möglich geworden sind - und sich dagegen kaum Widerstand regt. Oder kann schon von umgeformten Charakteren die Rede sein?

  • JK
    Juergen K

    ALG I -

    es fällt, gaaaanz langsam.

  • E
    exi

    Wenn wir die Optionen nüchtern betrachten, dann werden wohl zwei der drei umgesetzt werden.

     

    Die (Noch-)Beschäftigten sind allgemein die Melkkuh der Nation. Und für jede Anhebung der Arbeitslosenversicherung erlauben sich die Damen und Herren Gesetzesmacher eine satte Diätenerhöhung. (Wobei auch eine weitere Anhebung der MWSt., der Tabaksteuer, allgemein aller Konsumsteuern, nebst dem Weiterführen des Solidaritätsbeitrags zur Rettung des Westen (!) vor der Pleite, nicht ausgeschlossen sind...)

     

    Die Wiederangleichung des Bezugs von ALG1 ist natürlich am einfachsten und schnellsten zu bewerkstelligen. Und man hat das unschlagbare Argument: gab es früher schon einmal - brauchen wir wieder.

     

    Sinnvoll, aber unrealistisch, ist die Kürzung der Finanzierung der Eingliederung in Arbeit. Sinnvoll deswegen, weil sie bis dato den Arbeitslosen nichts gebracht haben. Und angesichts von 250'000 offenen Stellen bei 8'000'000 Arbeitslosen auch nichts bewirken können. Die Menschen sind nicht arbeitslos weil ihnen eine Schulung fehlt (denn es sind mehrheitlich gut gebildete Fachkräfte), sondern weil die Industrie keinen Bedarf hat. Selbst wenn ein Wunder geschähe und heute über Nacht alle Stellen besetzt würden, blieben 95% der Arbeitslosen weiterhin arbeitslos - es liegt also nicht an den Menschen oder gar zuwenig Zuwendung.

    Allerdings ist eine Streichung dieses Kostenpunktes unrealistisch. Bisher diente er insbesondere der Korruption. Parteigänger und Freunde der örtlichen ARGE-Leitung wurden mit horrenden Geldmengen versehen um Alibiveranstaltungen ohne Sinn, Nutzen oder Kosten veranstalten zu lassen. Eine Regierungsvorgabe, von nun an sollten Kumpels, Spezis, Amigos der Regierung nicht mehr für Nichtstun geschmiert werden, dürfen wir einfach nicht erwarten.