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die wahrheitDie Verfahrung der Welt

Literatur unserer Zeit: Daniel Kehlmanns große Fahrt mit dem R4.

Das Damen-, Dichter- und Lehrerauto R4. Bild: imago/Sebastian Geisler

Mählich tröpfelte der Abend über die Dächer von Berlin-Mitte, tröpfelte hinein in die Stadt, wie jenes frische Tannenzäpfle-Bier hineintröpfelte in die Kehle Daniel Kehlmanns, des großen Literaten und vielfach preisgekrönten homme de lettres, von dort hinabzuperlen in seinen Schlund, Geist und Körper zur Labsal. Nach einem Tag voll kleiner Schreibereien, anregender Telefonate und gelegentlicher Kontrollbesuche seiner Amazon-Ranking-Seite war er erschöpft in seinen Eames-Chair gesunken, welcher inmitten seiner Wohnung am Schiffbauerdamm stund oder vielmehr stand; und der Tag wollte nun mit etwas Seriengucken abgeschlossen werden, mit einer zünftigen Fernsehserie von der DVD also. Oder sollte es nicht gar ein wenig gepflegtes Playstation-Gedaddel sein, was nun nottat und wohltat? Nein, ein, zwei Folgen "Mad Men", das wäre doch etwas, das hatten ihm Freunde als Geheimtipp empfohlen.

Da klingelte es an der Türe, rimmbimm. Potztausend! Es war sein alter Kumpel Nabokov, der ihm da die Pranke entgegenstreckte! Hatte der berühmte Schriftsteller doch tatsächlich den weiten Weg aus Montreux auf sich genommen, um Kehlmann zum Namenstag zu gratulieren. Denn Nabokov, so wusste Kehlmann, entstammte jener christlichen Traditionslinie, welcher den heidnischen Tag der roh-organischen mütterlichen Niederkunft für unendlich wertlos hielt gegenüber der sozial-diskursiven, ja praktisch adamitischen Benennung des Säuglings, seiner Eingliederung in die Gemeinschaft der Gläubigen, mithin also seiner Benamsung.

Heute also war St. Kehlmann, wie jedes Jahr am 19. März, und Kehlmann hätte es selber fast vergessen gehabt. Allein, Nabokov stand ja vor ihm und erinnerte ihn daran, indem er verschmitzt aus seinem Anzug hervorlugte und sagte und sprach: "Mensch, haste deinen Namenstag vergessen, Dani-Sahne!" Kehlmann war zu baff, geplättet fast, um etwas zu sagen, ihm fiel leider auch nichts Kluges ein, daher beließ er es bei einem "Uff, Vladi, du hier", um den irisierend-jovialen, gleichwohl irrlichternd-irritablen Lebemann und Schriftsteller in seiner Wohnung zu bewillkommnen.

Der jedoch machte keinerlei Anstalten, in das mit allerlei Sperrholzdreck eingerichtete Appartement hineinzuspazieren. "Kommt nicht in Frage, Dani, wir machen jetzt erst mal eine Spritztour." Keck, schalkhaft, zugleich jedoch auch wieder schlangenhaft ließ Nabokov den Kopf nach hinten schnalzen, zeigte mit der Nase über seine in feinen Zwirn gehüllte Schulter, hinüber auf den Kehlmannparkplatz. Da blinkte und blitzte doch etwas, ein Auto, ein Brumm stand da. Ein Oldtimer war es, der da funkelte wie tausend Kleistpreise auf einmal. Potzfeurio! Es war der herausgeputzte rote R4 Nabokovs, heiß von der langen, hannibalmäßigen Fahrt übers Gebirge; und der Abendtau dampfte auf dem Gefährt wie Schweißperlen auf der Glatze des Schriftstellers Nabokov. "Du fährst", sagte Nabokov schelmisch - und drängte den verdutzten Kehlmann, der immer noch Jogginghose und Flauschpullover trug, hinein ins Vergnügen und also in den Fahrersitz.

Mit einem R4 war Kehlmann noch nie gefahren. Freilich wussten er von dem legendären Status des Gefährts, von den vielfachen geschichtlichen Beziehungen und diskursiv-sozialen Verweisstrukturen; und auf Nachfrage wäre er durchaus fähig gewesen, etwa in einer großen deutschen Tageszeitung allerlei Wissens- und Bedenkenswertes aus dem Schatzkästlein seines R4-Wissens preiszugeben, vorausgesetzt, man verschaffte ihm Zugang zu einem internetfähigen PC. Doch es war schon etwas anderes, in diesem herrlichen Gefährt zu sitzen, die Finger um den Schaltungsrevolver gleiten zu lassen, hinauszugucken ins weite Land, unendlich frei, gebremst nur durch die eigene Vorstellungskraft, die Straßenverkehrsordnung und die Bremsen.

Daniel Kehlmanns schöne Kehlmannhände schmiegten sich um das Lenkrad. Er schaltete, ließ kommen, gab Gas, setzte zurück, ließ es krachen, lenkte ein, überholte, rückkoppelte, dass die Erde bebte - alles in der falschen Reihenfolge. Nach kurzem Orgeln erstarb der Motor, und Kehlmann blickte schulbubenhaft und mit heißen Ohren hinüber zu Nabokov.

Um den feinen, sonst so lachenden Nabokovmund spielte nun ein grimmiger Zug, und man sah, dass dieser Mann, der doch allen materiellen Sorgen enthoben war, durchaus eine Sorge kannte, dass nämlich Kehlmann in seiner jugendlichen Trotteligkeit den schönen R4 zuschanden reiten würde, und dass die Namenstagsseligkeit im Streit und in lebenslanger Feindschaft zu enden geneigt war. "Wollen wir vielleicht doch rauf und eine Serie gucken? Kennst du schon ,Mad Men'?", fragte Kehlmann Nabokov recht täppisch, und Nabokov, der plötzlich alt und traurig aussah, ließ kurz etwas Luft aus seinen perfekt gereinigten Zahnzwischenräumen entweichen, um dann zu sagen: "Ja, na ja."

Der R4 aber erwachte, kaum dass die beiden die Haustür hinter sich geschlossen hatten, zu einem eigenen geisterhaften Leben, nahm kurzerhand Reißaus, floh ins Ungewisse und suchte sich sein eigenes frankophiles Abenteuer. War es die Freude, die ihn antrieb, die Freude, frei und die beiden schrägen Käuze endlich losgeworden zu sein? Oder hatte Daniel Kehlmann nicht doch bloß vergessen, der jungen Automobilisten durchaus gewöhnungsbedürftigen R4-Handbremse die nötige Reverenz zu erweisen? Wir werden es wohl nie erfahren.

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2 Kommentare

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  • H
    HUmorlos

    Es bleibt dabei: Leo Fischer lesen heißt die Zeit vergeuden, die mit schönem, auf eine weißgetünchte Wand gerichtetem Starren viel angenehmeren Nutzen bringend verschwendet hätte werden können!

    Danke, Anke.

  • MB
    Mats Borrel

    SEHR gut! Und: Klar, dass hier niemand kommentiert!

     

    Spricht leider gegen die taz-Leserschaft, die jeden x-beliebigen Schuluchsatireschrott der "Wahrheit"-Satire bejubelt, aber bei Texten wie diesem nicht wissen, was sie sagen sollen.

     

    Danke, Herr Fischer!