: „In den besten Momenten ist Kirche ein Stück Familie“
DIE ENGAGIERTE Eigentlich hatte Barbara Faccani mit der Kirche wenig am Hut. Dennoch bringt die heute 73-Jährige Christen und Juden zusammen, streitet im Auftrag der Kirche für die Rechte von Flüchtlingen und förderte Religion in Industriebetrieben. Ein Gespräch über Mitbestimmung, verkappte Christen und das Recht auf Streik in Gotteshäusern
■ Barbara Faccani wird am 10. Oktober 1939 in Berlin geboren. Nach dem Abitur studiert sie an der Freien Universität Volkswirtschaft. Nach betrieblichen Erfahrungen unter anderem bei der Siemens AG wird sie 1968 Referentin im „Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt“, der Ende 1997 eingestellt wird.
■ Im Kirchlichen Dienst ist sie zuständig für die Kontakte zwischen Landeskirche, den Arbeitgebern und Betrieben. Zudem engagiert sie sich für Frauen, Migranten und Flüchtlinge. Seit 1975 gestaltet sie die Interkulturelle Woche mit, seit 1996 die alljährliche kirchliche Kunstauktion für diesen Personenkreis.
■ Außerdem ist sie stellvertretende evangelische Vorsitzende der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, die vom 3. bis 10. März die 61. Woche der Brüderlichkeit veranstaltet. Sie wird am Sonntag, dem 3. März, um 16 Uhr in der Französischen Friedrichstadtkirche am Gendarmenmarkt eröffnet. Das Programm steht unter www.gcjz-berlin.de
INTERVIEW BERT SCHULZ FOTOS WOLFGANG BORRS
taz: Frau Faccani, sind Sie ein guter Mensch?
Barbara Faccani: Manchmal, ja.
Wieso nur manchmal?
Ich versuche das, was man Anständigkeit nennt, einzuhalten. Das hat auch mit meiner Erziehung zu tun: Ich habe nur Mädchenschulen besucht, eine staatliche und eine konfessionelle. Das ergab einen bestimmten Kompass.
Ich bin auf diese Frage gekommen, weil Sie eine fast unendliche Reihe von Ämtern innehatten und haben: Sie waren 30 Jahre beim Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt der Landeskirche, noch länger arbeiten Sie mit Flüchtlingen und Zuwanderern, Sie sind Schatzmeisterin des Freundeskreises der Evangelischen Akademie und Sie organisieren die Woche der Brüderlichkeit mit. Alles Aufgaben, die einen guten Menschen auszeichnen.
Ich würde eher sagen, das sind Aufgaben für jemanden, der sieht: Hier und dort ist es nötig, etwas zu tun. Ich versuche, dafür meinen Beitrag zu leisten.
Hm.
Nehmen Sie zum Beispiel die Arbeit mit ausländischen Frauen, die sich erst Ende der 1970er Jahre entwickelt hat. Wir haben damals in der Kirche festgestellt, dass sich die Gesellschaft bereits um Jugendliche und Kinder von Ausländern kümmert. Kirchliche Einrichtungen fragten – übrigens seinerzeit als einzige: „Und wo bleiben die Frauen?“ In der Folge entwickelten Diakonie und Gemeinden einige Einrichtungen für ausländische Frauen. Als zwei von ihnen geschlossen werden sollten, haben wir die Initiativen gebündelt und waren damit erfolgreich. So entstand 1983 der Verein Hilfe für ausländische Frauen und Kinder.
Wie geht es Ihrem Verein heute?
Er wird seinen 30. Geburtstag in diesem Jahr kaum überleben. Das Durchschnittsalter der Vorstandsdamen ist über 70. Aber 30 Jahre sind eine gute Zeit. Es war ja auch ein Generationenprojekt.
Das zeigt sich schon beim Namen: Kein Verein würde sich heute mehr „Hilfe für ausländische Frauen und Kinder“ nennen. Der Begriff Ausländer ist fast verschwunden.
Ehrlich gesagt, haben wir 1983 händeringend nach einem passenden Namen gesucht. Wir mussten von kurdisch bis griechisch ja alles abdecken. Und Sie haben recht: Selbst auf unserer Homepage sprechen wir noch von Ausländerinnen. Ich gebe zu, wir sind veraltet.
Zeit Ihres Lebens haben Sie sich mit der jüngsten deutschen Geschichte befasst.
Nach der Lektüre des „Tagebuchs der Anne Frank“ und des Buchs über die „Weiße Rose“ habe ich mich in jungen Jahren sehr intensiv mit den Themen Judenverfolgung und Widerstand befasst, obwohl es in den 50er Jahren nur sehr wenig Literatur dazu gab. Mit einem Referat über Widerstand im Dritten Reich habe ich mich bei meinem Direktor nicht beliebter gemacht.
Sind die Reaktionen heute anders?
Vor einigen Jahren, als meine damalige Mädchenschule im Grunewald ihr hundertjähriges Bestehen feierte, schlug ich vor, sich mit dem Schicksal der ehemaligen jüdischen und halbjüdischen Schülerinnen zu befassen. 1933 betrug ihr Anteil fast 40 Prozent.
Eine naheliegende Idee.
Leider wollte auch dieser Direktor sich damit nicht befassen und blieb stur wie ein Panzer. Da habe ich wirklich einen dicken Hals bekommen: Man kann doch nicht durch Verschweigen die Geschichte ungeschehen machen! Immerhin durfte Erica Fischer aus ihrem Buch „Aimée und Jaguar“ lesen. Jaguar, also Felice Schragenheim, war bis 1938 Schülerin an dieser Schule und kam Ende 1944 um.
Warum haben Sie später nicht Geschichte studiert, sondern ausgerechnet Volkswirtschaft?
Geschichte konnte ich nicht studieren, dafür fehlte mir das Große Latinum. Dann hatte ich die wahnsinnig naive Vorstellung – die man wahrscheinlich nur mit 19 aus sogenanntem bürgerlichen Haus haben kann – das Dritte Reich wäre nicht passiert, hätten Journalisten darüber warnend berichten können. Also beschloss ich, Journalistin zu werden. Doch nach 14 Tagen in einer Redaktion bekam ich den gut gemeinten Rat: „Studiere erst etwas Vernünftiges!“ Ich habe mir überlegt: Wo habe ich etwas mit Menschen zu tun und dem, was sie prägt? Und ich gebe gern zu: Damals glaubte ich noch an die soziale Marktwirtschaft.
Heute nicht mehr?
Das Wirtschaftswunder der 50er und 60er Jahre schien ein Beleg dafür zu sein, dass sie ein hervorragendes System ist. Es war keiner zurückgeblieben, es wurden bereits ausländische Arbeitnehmer angeworben. Doch das, was sich in den letzten Jahrzehnten auf dem Arbeitsmarkt abgespielt hat, hätte man sich damals nicht vorstellen können. Immerhin haben zwei vom Arbeitskreis „Arbeit, Teilhabe, Gerechtigkeit“ der Landeskirche veranstaltete Armutskonferenzen dazu geführt, dass es in Berlin seit einigen Jahren eine offizielle Landesarmutskonferenz gibt.
Nach Ihrem Studium wollten Sie nicht mehr Journalistin werden?
Ich konnte mir ein Volontariat finanziell nicht leisten. Meine Eltern sind 1958 nach Kanada ausgewandert – aus Angst, die Russen kämen gleich. Meine Großmutter ist ihnen nach dem Mauerbau gefolgt. Ich saß alleine da.
Wo sind Sie letztlich gelandet?
Bei Siemens Halske. Dort suchten sie jemanden für den Bereich Personal- und Sozialpolitik. Ich hatte das große Glück, dass meine beiden direkten Vorgesetzten vernünftige, mutige Männer waren, die eine Frau eingestellt haben. 1966!
Na ja, für Sozialpolitik.
Siemens Halske hatte eine Belegschaft von 24.000 Personen, davon waren vier studierte Frauen.
War das der Grund, warum Sie es dort nicht allzu lange ausgehalten haben?
Mir hat die Arbeit Freude gemacht, es hätte noch 30 Jahre so weitergehen können. Und im Arbeitgeberverband habe ich in der Bildungs- und Jugendarbeit mitgewirkt. Just dadurch hat sich mein Leben verändert: In der Evangelischen Kirche Deutschlands war man nach dem Krieg zu der Einsicht gekommen, dass man sich bisher kaum um die Arbeitswelt, um Arbeiter und Angestellte gekümmert hatte. 1952 wurde Harald Poelchau erster Industriepfarrer in Berlin.
Poelchau war in der NS-Zeit Gefängnispfarrer in Tegel, er hatte Kontakt zu vielen Widerstandsgruppen und war Mitglied des Kreisauer Kreises.
Industriepfarrer wurde er aus Überzeugung: Er war religiöser Sozialist. Im wilden Jahr 1968 entschied er, auch Unternehmer, leitende Angestellte und Wirtschaftsverbände einzubeziehen. Er fragte beim Arbeitgeberverband an, ob man ihm jemanden vermitteln könnte.
Sie!
Ich gebe zu, dass mich eine kirchliche Dienststelle zunächst irritiert hat. Andererseits gab es friedenspolitische Initiativen wie die Ost-Denkschrift, die ich gut fand. Evangelisch war ich auch.
Aber nicht richtig überzeugt?
Eher in dem allgemeinen Sinn, wie man halt evangelisch war: Kirchensteuer gezahlt, gelegentlich Gottesdienste besucht, aber keine engeren Gemeindekontakte gehalten.
Was hat Sie dann bewogen, mitzumachen?
Es war der Name Harald Poelchau. Ich erinnerte mich daran, wie häufig ich seinen Namen in der entsprechenden Literatur in meiner Schulzeit gelesen hatte. Ich wollte diesen Mann kennenlernen. An dem Job war ich zunächst weniger interessiert.
Aber das hat sich geändert?
Poelchau hat mich in seiner leisen, aber sehr überzeugenden Art innerhalb von einer Stunde dazu bewegt, mein ganzes Leben zu verändern. Irgendwie hatte es etwas von der Auswanderung meiner Eltern – ein Eintritt in eine ganz andere Welt.
Wie äußerte sich das?
Ich kannte die Welt der Industrie, der Betriebe. Kirche war gänzlich anders, zum Teil auch mit einem völlig anderen Vokabular. Unser verstorbener Bischof Scharf hat mir einmal aufgezeichnet, wie demokratisch eine Synode gewählt wird und arbeitet, und wollte mir damit deutlich machen: Jeder kann hier mitreden. Das fand ich sehr überzeugend.
Was fanden Sie weniger überzeugend?
Etwa, dass kirchliche Mitarbeiter nur ein eingeschränktes Mitbestimmungsrecht und kein Streikrecht haben; daran hat sich bis heute wenig geändert. Ich weiß nicht, ob ich jemals gestreikt hätte – aber ich habe Situationen erlebt, in denen ich verstanden hätte, dass kirchliche Mitarbeiter sagen: bis hierher und nicht weiter. Und was die Beschäftigten betrifft, so ist inzwischen der Unterschied zu Wirtschaftsunternehmen oft nur noch gering: Outsourcing oder Schließung bestimmter Arbeitszweige, Zeitverträge, Leiharbeiter, Teilzeitarbeit. Kirche sollte sich hier wirklich unterscheiden.
Was ist die Kirche heute für Sie?
(überlegt lange) In ihren besten Teilen mit ihren besten Leuten ein Stück Familie. Aber es gibt in jeder Familie auch schwarze Schafe. Ich hatte aber immer das Glück, dass meine Arbeit von den jeweiligen Bischöfen geschätzt und unterstützt wurde. Allerdings kommt die Industriearbeiterschaft, soweit es sie noch gibt, immer weniger in unserer Kirche vor. In den großen Kirchen in Kreuzberg oder Neukölln, in die noch vor einem Jahrhundert bis zu 3.000 Arbeiter strömten, freuen sich die Pfarrer, wenn 30 bis 40 Personen zu einem Sonntagsgottesdienst kommen. Diese Kirche wird wohl zunehmend eine Kirche des Mittelstandes und der älteren Generation werden.
Auch der Mitgliederschwund ist immens …
Leider haben wir es erreicht, uns auf weniger als 20 Prozent der Berliner zu reduzieren. Allerdings glaube ich, dass es unter der Bevölkerung viele sozusagen verkappte Christen gibt, die zwar die Leistungen der Kirche im sozial- und bildungspolitischen Bereich anerkennen, aber keine Kirchensteuer zahlen wollen.
Woran machen Sie das fest?
Kirche spricht durch Personen: Die Leute hören erstaunlich genau hin, was etwa Bischöfe sagen – auch wenn sie manchmal nur Schlagzeilen lesen.
Reden wir über den Austausch zwischen Christen und Juden. War das für Sie auch eine Lehre aus der Geschichte?
Es war für mich fast wie ein Geschenk, als ich gefragt wurde, ob ich im Vorstand der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit mitarbeiten will. Mein Ja dazu kam ganz spontan, schon weil ich damit wieder zum Thema meiner Jugend zurückkehren konnte, der Aussöhnung.
Was hat es Ihnen gebracht?
Ungeheuer viel – wenn ich allein daran denke, was ich in den vergangenen zwölf Jahren über das Judentum gelernt habe. Aber wie kann ich das in gleicher Weise von jungen Leuten erwarten, von deutschen und nichtdeutschen? Oder von unseren Nachbarn in Brandenburg.
Wieso kommen Sie gerade auf die Brandenburger?
Teils durch fehlende Begegnungsmöglichkeiten, teils durch Unwissenheit dürfte die Zahl der latenten Antisemiten dort noch etwas höher sein als unter Berlinern. Man kann es ihnen nicht verübeln: Zu den vielen Problemen der Nachwendezeit kam, dass dem Land ein Kontingent am Flüchtlingen zugewiesen wurde. Das war für manche eine zusätzliche Belastung.
Die Tatsache, dass es Ihre Gesellschaft gibt, zeigt allerdings auch, dass die Zusammenarbeit zwischen Christen und Juden immer wieder angeschoben werden muss.
Das ist ein ständiger Prozess. Und man darf auch ruhig daran erinnern, dass die Gesellschaft nicht ganz freiwillig entstanden ist. Es waren 1948 die Amerikaner, die auf eine Zusammenarbeit drängten. Und es war nicht so einfach, honorige Christenmenschen für die ersten Gremien zu finden. Dass es für die jüdische Seite ganz besonders schwer war, auf dieses Gesprächsangebot einzugehen, ist verständlich.
Wie ist das heute?
Gemäßigt freundlich. Wir haben zwei jüdische Vorsitzende und selbstverständlich auch jüdische Mitglieder. Der Kontakt zur Jüdischen Gemeinde wird von beiden Seiten gepflegt.
Sie selbst haben italienische Wurzeln.
Nach weit über 100 Jahren ist das kein richtiger Migrationshintergrund mehr: Ich bin in Berlin geboren. Mein Großvater war vor dem Ersten Weltkrieg nach Schlesien gegangen, fand die richtige Frau und wurde evangelisch. Aber aus Solidarität – und weil ich es in jungen Jahren chic fand – habe ich am italienischen Pass festgehalten.
Was haben Sie gewonnen?
Alltagserfahrungen, die viele Zugewanderte noch immer machen, wenn sie keinen Personalausweis mit ihrer Adresse vorweisen können, ob bei Einkäufen oder in der Stadtbücherei.
Sie haben bis heute keinen deutschen Pass?
Seit 2002 war eine doppelte Staatsbürgerschaft möglich und meine Einbürgerung ging 2004 sehr schnell über die Bühne. Unter anderem musste ich unterschreiben, dass ich mich auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung bewegen werde. Wo war ich vorher eigentlich? Ich zögerte ein wenig und meinte: „Nun hätte ich doch ein Loyalitätsproblem: Was mache ich, wenn Italien gegen Deutschland Fußball spielt?“
Und was machen Sie?
Wir haben alle gelacht. Ich hätte nie gedacht, dass das so bald – 2006 – aktuell würde. Ich bin übrigens immer für das Team, das mir gerade sympathischer ist.
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