Sexualität im Alter: Seniorinnen suchen Dr. Sommer
Zur Beratungsstelle Pro Familia kommen verstärkt ältere Frauen, die über Sexualität reden wollen. Das Team plant eine eigene Anlaufstelle für die neue Zielgruppe.
Der Blick ist sinnlich, voller Begierde. Rückwärts hat sich die Frau auf dem Bett ausgestreckt und schaut nun kopfüber in die Kamera. Schultern und Arme sind nackt. Nur die Brüste hat sie eben noch mit einem Tuch bedeckt. Ein erotisches Bild, wie man es in der Werbung oder in Filmen häufiger zu sehen bekommt. Doch etwas ist anders. Die Frau hat Falten auf der Stirn. Sie ist um die 60 Jahre alt.
Das Foto hängt in einer Ausstellung im Flur der Beratungsstelle für Sexualität und Partnerschaft Pro Familia nahe dem Wittenbergplatz. Es passt zu einem Trend, den die Beraterinnen beobachten: Ältere Menschen gehen mit ihrer Sexualität offensiver um. "Vor fünf Jahren war das noch kein Thema. Heute kommen immer mehr ältere Frauen in die Beratung, um über sexuelle Probleme zu sprechen", berichtet die Psychotherapeutin Susanna Ganarin. Im Jahr 2010 richteten sich bereits 11 Prozent von insgesamt 440 psychologischen Beratungen bei Pro Familia an Menschen über 55 Jahren.
Um dem steigenden Bedarf gerecht zu werden, will das Team in Berlin nun eine eigene Anlaufstelle explizit für Ältere schaffen. Das Konzept für das Projekt sei bereits geschrieben, sagt Ganarin. Jetzt müsse man noch die Finanzierung sichern.
Als Ursache der steigenden Nachfrage sehen die Pro-Familia-Mitarbeiterinnen zum einen demografische Veränderungen: Es gibt schlicht mehr ältere Menschen und damit auch mehr Beratungsbedarf. Sie beobachten aber auch einen Bewusstseinswandel. "Die Generation, die jetzt in die Jahre kommt, hat die Frauenbewegung und die sexuelle Revolution miterlebt", sagt Ganarin. Auch Sexualität im Alter werde deshalb weniger oft weggeschwiegen. Für die Therapeutin eine erfreuliche Entwicklung. Denn ältere Menschen stünden dabei vor besonderen Herausforderungen. "Es fehlt in der Gesellschaft erheblich an einer Wertschätzung älterer Frauen und ihrer Sexualität."
Die Medizinpsychologin und frühere Charité-Mitarbeiterin Beate Schultz-Zehden hat sich mit dem Thema wissenschaftlich befasst. Auch sie kommt zu dem Schluss: Nach wie vor ist Sexualität im Alter "in unserer auf ewige Jugend eingestellten Gesellschaft ein tabuisiertes Thema", schreibt sie in einem Fachbeitrag. "Altern wird von vielen Frauen mit einer kontinuierlichen sexuellen Entwertung erfahren." Studien zeigten, dass mit dem Älterwerden zwar häufig ein Libidorückgang und eine Abnahme der sexuellen Aktivität einhergehe, so Schultz-Zehden. Doch dafür könnten neben den körperlichen Ursachen auch psychologische Gründe eine Rolle spielen - etwa Vorurteile, die bei den Betroffenen zu Befangenheit führten.
In den Beratungsgesprächen haben die Mitarbeiterinnen von Pro Familia mit ebendiesen Problemen zu tun. Häufig fragten sich die Frauen, wo sie einen neuen Partner kennenlernen könnten, berichtet Ganarin. "Es gibt bei Älteren eine größere Hemmschwelle, zum Beispiel über das Internet aktiv zu werden." Andere klagten über die eigene Unlust. "Sie glauben, man muss Sex haben, sie stehen unter Leistungsdruck", erzählt die Beraterin Frauke Petras. Wieder andere litten unter den Erektionsstörungen ihres Partners.
Manche entdecken im Alter ihre Sexualität auch neu. Eine über 60-Jährige, die seit Langem verheiratet ist, habe bei einer Affäre mit einem jüngeren Mann zum ersten Mal einen Orgasmus erlebt, berichtet Petras. Sollte sie mit ihrem Mann darüber sprechen? "Diese Frau war völlig verwirrt." Eine andere Klientin verliebte sich in eine Frau, erzählt Ganarin. "Die Familie war schon geschockt, dass die Oma plötzlich lesbisch war."
Die Beraterinnen unterstützen all diese Frauen dabei, die eigenen Bedürfnisse zu akzeptieren und selbstbewusst mit ihnen umzugehen - trotz Falten und eines alternden Körpers. Ganarin sagt: "Sex ist und bleibt oft ein lebenslanges Bedürfnis. Auch mit 90 Jahren kann das noch ein erfüllendes Thema sein."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Trump erneut gewählt
Why though?
Harris-Niederlage bei den US-Wahlen
Die Lady muss warten
Pro und Contra zum Ampel-Streit
Sollen wir jetzt auch wählen?
Pistorius stellt neuen Wehrdienst vor
Der Bellizismus kommt auf leisen Sohlen
Protest in Unterwäsche im Iran
Die laute Haut
Abtreibungsrecht in den USA
7 von 10 stimmen „Pro-Choice“