Spätfolgen einer S-Bahn-Attacke: Nach der Gewalt kommt die Angst

Manfred Röwer wurde 2008 im S-Bahnhof attackiert, bis heute leidet er darunter. Unterstützt hat ihn die Opferhilfe Berlin.

Berliner S-Bahn-Zug Bild: dpa

Mit voller Wucht traf ihn die Glasflasche am Rücken, dann packte eine schwarz gekleidete Gestalt Manfred Röwer am Hals und würgte ihn. "Mein einziger Gedanke war: Hoffentlich wirft der dich nicht auf die Gleise", erzählt der 64-jährige Rentner. Er gehört zu den zahlreichen Gewaltopfern, die in den letzten Jahren auf Bahnhöfen angegriffen und verletzt wurden. Zuletzt hatte im April ein 18-Jähriger auf dem U-Bahnhof Friedrichstraße einen Mann bewusstlos getreten.

Die Ereignisse kurz vor Silvester 2008 hat Röwer noch genau vor Augen: Gegen 17 Uhr betrat er den S-Bahnhof Schlachtensee in Zehlendorf. Es dämmerte bereits. Am Eingang zum Bahnhof hörte er laute Stimmen. "Zwei junge Punks, ein Mann und eine Frau, stritten miteinander am Treppenaufgang", sagt er. Bis sie auf den Rentner aufmerksam wurden und ihn anschrien: "Bleib stehen, du Penner!"

Röwer wollte nur weg. "Ich tat so, als ob ich mich nicht angesprochen fühlte, und lief schnell die Treppe hinauf." Es half nichts: Kurz bevor er den Bahnsteig erreichte, rammte die Frau ihm von hinten eine Flasche in den Rücken. "Das war ein heftiger Schlag", erinnert sich der 64-Jährige. Er versuchte zu fliehen - doch der Mann war schneller. Auf dem Bahnsteig holte er Röwer ein, würgte ihn und forderte seine Begleiterin auf, dem Opfer die Flasche ins Gesicht zu schlagen. "Da dachte ich, vielleicht überlebe ich diesen Tag nicht."

Röwer hatte Glück. Ein auf dem Bahnsteig wartender Bauarbeiter schritt ein. "Lasst den Mann in Ruhe", rief er, griff den Täter an und befreite Röwer aus der Umklammerung. "Heute glaube ich, dass er vielleicht mein Leben gerettet hat", sagt der Rentner. Es kam zu einer Schlägerei, schließlich überwältigte der Arbeiter den Punk. Röwer hielt unterdessen die junge Frau fest. Die Flasche landete im Gleisbett. "Dann habe ich die Polizei gerufen", sagt Röwer. Die Beamten nahm die Angreifer fest. Es stellte sich heraus, dass sie noch nicht volljährig waren.

Am selben Abend suchte Röwer ein Krankenhaus auf: Er hatte eine Brustkorbprellung und Abschürfungen erlitten. Die seelischen Verletzungen sind bis heute nicht verheilt. Der 64-Jährige leidet unter Schlafstörungen und Angstzuständen in Bahnen. Um Jugendliche macht er einen großen Bogen.

Einfach weitergefahren

Was Röwer besonders verbittert: "Es waren Menschen auf dem Bahnhof. Aber außer dem Bauarbeiter hat niemand geholfen und die Polizei gerufen." Selbst der Zugführer einer S-Bahn griff nicht ein. "Der fuhr mit seinem Zug einfach weiter, obwohl er die Schlägerei sah."

In den folgenden Monaten sehnte Röwer die Gerichtsverhandlung herbei - und wusste dennoch nicht, wie er damit umgehen sollte. "Ich wusste gar nicht, was in diesem Verfahren als Zeuge auf mich zukommt und wie ich mich da verhalten soll", sagt Röwer. Er folgte dem Rat eines Bekannten und wandte sich an die Opferhilfe Berlin. Die betreut seit zehn Jahren kostenlos Zeugen im Kriminalgericht Moabit. Im vergangenen Jahr unterstützten die Sozialpädagogen der Beratung gut 1.100 Personen.

Für diese Unterstützung ist Röwer heute dankbar: "Ich sprach dort mit einem Pädagogen über die Tat. Das hat mir psychisch sehr geholfen." Außerdem informierte er sich über eventuelle Ansprüche auf Schadensersatz. Am wichtigsten für ihn war allerdings ein anderes Angebot der Opferhilfe: "Ich ließ mich von einem Pädagogen in den Gerichtssaal begleiten. Damit war ich nicht ganz auf mich allein gestellt", so der 64-Jährige.

Trotzdem: Die Verhandlung war für Röwer schrecklich - obwohl er das Opfer war. Schon am Gerichtseingang bei der Taschenkontrolle wartete die erste böse Überraschung: "Da stand einer der Täter direkt hinter mir", sagt er. Wut und Angst verspürte der Rentner und suchte sogleich die Zeugenberatung im Gebäude auf. "Es kann doch nicht sein, dass Täter und Opfer denselben Eingang benutzen."

Im Gerichtssaal selbst konnte der 64-Jährige kein Selbstvertrauen aufbauen: "Plötzlich fühlte ich mich ganz klein, elend und hilflos." Angst habe er gehabt vor den Fangfragen des Verteidigers. Und davor, etwas zu sagen, was ihm selbst schadet. Dass beide Täter mit geringen Strafen davonkamen, versteht er bis heute nicht: "Sie wurden wegen schwerer Körperverletzung angeklagt, müssen insgesamt aber nur 450 Euro Schmerzensgeld zahlen." Röwer ging nicht als gefühlter Sieger aus dem Gericht.

S-Bahnhöfe außen vor

Die jüngste Initiative des Senats, mit mehr Polizisten, BVG-Sicherheitsleuten und Videokameras für mehr Sicherheit auf Bahnhöfen zu sorgen, findet Röwer "sehr gut und notwendig", nur leider verspätet und unvollständig. "Das neue Sicherheitskonzept bezieht sich auf U-Bahnhöfe und lässt S-Bahnhöfe aber außen vor", so Röwer. Kritik übt er am Sicherheitspersonal: "Die stehen teilnahmslos an der Tür und gehen überhaupt nicht durch den Zug. So können sie gar nicht sehen, wenn etwas passiert."

Nachholbedarf gibt es seiner Meinung nach auch bei der Videoüberwachung: "Auf vielen S-Bahnhöfen wurden die Kameras wieder abgebaut", bemängelt Röwer. Zurück bleibt für ihn nur eine Erkenntnis: "Wir leben in einer brutalen Gesellschaft, in der kaum einer dem anderen hilft."

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